«So leicht, so schön, doch plopp und du kannst nie mehr fliegen!» Lotte stand draussen und machte Seifenblasen. Mutter Lina linste aus dem offenen Fenster und schaute kurz verträumt zu, doch dann widmete sie sich wieder dem Kochen. «Lotte, kommst du rein, es gibt Essen!», rief Mutter Lina. Als Antwort kam: «Bin schon auf dem Weg.» Auch beim Essen schwärmte Lotte vom Fliegen. Denn Lotte und ihre Mutter waren kein Stück normal. In der Nacht konnten sie durch ihre Anhänger Eulen werden. Lotte konnte allerdings noch nicht gut fliegen. «Ja, Lotte, ich weiss, dass du fliegen lernen möchtest. Heute Nacht beim Honigbaum ist es so weit», unterbrach die Mutter Lottes Redeschwall. «Was, wirklich?! Juhu!», jubelte Lotte.

Der Honigbaum

In der Nacht wachte Lotte auf und drückte auf den Flügel auf ihrem Anhänger. Es fing an, bei den Füssen zu kribbeln. Das Kribbeln breitete sich im ganzen Körper aus, dann juckte es in den Armen und die Arme drehten sich. Zuerst spriesste Flaum und dann die grossen langen Flugfedern, die silbern weiss leuchteten. Ein goldener Schimmer sprühte aus dem Anhänger hervor und hüllte Lotte ein. Sobald dieser verschwand, war sie eine wunderschöne Schneeeule. Sie hüpfte zum Fenster und flatterte hinaus in Richtung Honigbaum. Bei diesem angekommen, staunte sie über seine Schönheit. Glitzernde Blätter wiegten sich im Wind und ein honigsüsser Duft schwebte in der Luft. Sie landete auf einem grossen Ast und wartete auf ihre Mutter. Doch lange musste sie nicht warten, da kam die grosse Eule schon und landete neben ihr. «Fliegen fühlt sich so leicht an, wenn der kühle Nachtwind den Bauch und den Rücken streift. Dann ist das wundervoll», raunte sie ihr leise zu.

Arkadias Flugstunden

Einige Wochen später hatten Lotte und die anderen Schülerinnen ihre erste Flugstunde bei Lalina. In der späten Nacht verwandelte sich Lotte wieder in eine Eule und flog durch die leichte Brise nach Arkadia zum Flugtreffen. In ihrem Bauch kribbelte es, als würden Ameisen darin herumkrabbeln. Sie landete auf einem grossen Ast auf dem Flugplatz.

Einige andere Eulenmenschen waren ebenfalls schon da. Lotte unterhielt sich aufgeregt mit Emilia und Sereina. Da glitt Lalina, ihre Fluglehrerin, auch schon elegant zu ihnen: «Kinder, heute werden wir lernen, mit einem Flügel zu fliegen.» Schnell merkten die Schülerinnen, dass dies nicht leicht war, denn es brauchte sehr viel Kraft. Emilia, Sereina und Lotte gelang es jedoch schon beim dritten Mal. Jetzt setzten sie sich ganz dicht aneinander und falteten ihre Flügel über eine andere Eule. Sie würden alle mit dem rechten Flügel fliegen, was man die Spirale nannte.
«In der nächsten Stunde werden wir dann das Lautlosfliegen und das Spläschfliegen lernen», erklärte ihnen Lalina, bevor sie müde aber glücklich nach Hause flogen.
Als Lotte in der nächsten Woche wieder zur Flugstunde ging, lernten sie erst das Spläschfliegen. Das war sehr schwierig, denn man musste immer wieder ins Wasser eintauchen.

Dies musste sehr schnell gehen, denn wenn man es beherrschte, waren die Eulen so gut wie unsichtbar. Damit sie wirklich nicht mehr entdeckt wurden, mussten die Kinder auch das Lautlosfliegen können. Das war aber eher einfach. Nach dieser Stunde beherrschten alle Eulen die Voraussetzung für ihr Diplom. Dort musste die Spirale, der Spläsch und das Lautlosfliegen vorgeführt werden. In der Nacht war die Zeit für Lotte gekommen. Sie machte sich auf zum Prüfungsplatz. Dort versammelten sich alle. Lotte unterhielt sich aufgewühlt noch kurz mit Emilia und Sereina. Danach ging es auch schon los. Zuerst mussten Emilia, Sereina und Lotte die Spirale zeigen, anschliessend nacheinander das Spläschfliegen und Lautlosfliegen vorführen.

Zum Glück gelang ihnen alles und sie bekamen ihr ersehntes Diplom. Von nun an flogen sie fast jeden Abend noch ein wenig in der Dunkelheit.