Legende des geheimnisvollen Waldes
Lily ging ihre Strasse entlang und musste den Hals recken, um nach vorne zu sehen. Ein Umzugswagen stand vor dem vordersten Haus. «Da zieht jemand ein», dachte sie. Hoffentlich sind es Kinder! Die könnten in unserer Bande mitmachen. Im Dorf gehörten nämlich alle Kinder, ausser Lilys ältere Brüder, einer Bande an. Sie nannten sich den Inneren Kreis. Lily wollte eben zu einem Treffen dieser Bande.
Ein Junge sprang aus dem Umzugswagen und trug eine Kartonschachtel zu einem Mädchen im Hauseingang. Lily berührte ihr Armand: Es war das Bandenzeichen vom Inneren Kreis. Die Beiden würden vermutlich in wenigen Tagen dieses Band auch tragen. Lily nahm sich vor, die Beiden als neue Mitglieder vorzuschlagen. Sicher würde Noah, der Bandenhäuptling, sie mit offenen Armen empfangen.
«Zack Wells», rief Lily vor einem alten Haus das Passwort, welches immer ein Name eines Bandenmitgliedes war. Die Tür des Hauptquartiers wurde geöffnet und Lily ging hinüber zu ihrem Platz. Sie war als Letzte angekommen, denn die anderen zehn Kinder blickten schon gespannt zu Noah hinüber. Dieser räusperte sich und fragte in die Runde: «Hat jemand von euch Neuigkeiten zu erzählen?» – «Ja, ich», sagte Lily, «in unserer Strasse zieht eine neue Familie ein. Die Kinder dürfen doch bei uns mitmachen, nicht wahr, Noah?»
«Du meinst die Jays? Für die habe ich einen anderen Plan.» Ohne Lilys Antwort abzuwarten, fragte er: «Weißt du eigentlich nicht, was unser Name Innerer Kreis bedeutet?» Darüber hatte Lily noch nie nachgedacht. «Es bedeutet, dass nur Kinder mitmachen dürfen, die aus einer der fünf Dorfgründerfamilien stammen, also die Wells, Flyers, Zimmers, Greens und die Roses.»
Noah, der Lily kurz drohend angeschaut hatte, wandte sich wieder an alle: «Ihr kennt hoffentlich die Legende des geheimnisvollen Waldes?» Lily kannte sie nicht, wusste aber, dass es in dieser Situation besser war, nichts zu sagen. Sie war froh, als Hannah Flyer diese Legende auch nicht kannte. Noah las sie darum laut vor:
«In unserem Dorf Barnhausen lebten einst zwei Brüder. Der ältere war brilliant aber boshaft. Der jüngere jedoch war genau das Gegenteil. Als sich der ältere einmal über seinen kleinen Bruder sehr aufregte, nahm er ihn zum nahgelegenen Wald mit.» Noah machte eine kurze Pause und sagte: «Es heisst, er habe seinen Bruder am Abend alleine im Wald zurückgelassen und dieser sei dort gestorben. Seither ist der Wald nicht mehr so wie vorher. Es geschehen merkwürdige Dinge.»
Noahs Augen leuchteten vor Vorfreude, als er den nächsten Satz sagte: «Wir können uns ein Beispiel daran nehmen und die Neuen ebenso in den Wald führen! Unsere Bande muss schliesslich auch Spass haben!»
«Noah, dass kannst du doch nicht machen!», rief Lily entsetzt. «Doch, das kann ich sehr wohl tun», erklärte Noah. Einige der Bande tauschten entsetzte Blicke aus, darunter Lily, Hannah und Zack. Andere aber blickten eher erfreut. «Ich mache da nicht mit!», rief Lily und stürmte aus der Tür.
Zu Hause sass Lily in ihrem Zimmer und zerriss wütend ihr Banden-Armband, als plötzlich ihre beiden Brüder hineinstürmten. In der Hand hatten sie einen Tannenzapfen.
«Lily, wir müssen dir etwas zeigen», sagte Jan, «erinnerst du dich noch an den Tannzapfen, der dir als kleines Kind im Wald auf den Kopf gefallen ist? Wir haben ihn aufbewahrt. Er ist nämlich magisch. Er kann dir alles zeigen, was du wissen willst. Darum wissen wir Bescheid über das heutige Bandentreffen.» Jack fuhr weiter: «Fass diesen Zapfen mal an Lily.» Sie tat, wie ihr geheissen und sobald sie den Zapfen berührt hatte, wusste sie, wie sie zusammen mit ihren Brüdern Noah überlisten und den neu zugezogenen Kindern helfen konnte.
Lily sass hinter einem Baum und wartete. Von Weitem hörte sie Stimmen und wusste, es war soweit: Sie kamen. Noah lief geradewegs auf den Baum zu, hinter dem Lily kauerte. Dicht hinter ihm liefen der neuzugezogene Junge und seine Schwester. Der Rest der Bande folgte. Noah nahm ein Seil hervor, um die Geschwister an den Baum zu fesseln.
«JETZT», schrie Lily und der Baum hob einen Ast, packte Noah und liess ihn kopfüber in der Luft baumeln. Die anderen Kinder rannten kreischend davon, doch der gesamte Wald hinderte sie daran. Die Äste der Bäume versperrten ihnen den Weg und die Waldtiere trieben sie in einem Kreis zusammen. Nun trat Lily hervor und erklärte: «Noah, der Wald lässt alle frei, wenn du versprichst, nie wieder etwas so Gemeines zu tun und alle Dorfkinder in der Bande aufzunehmen.» «Ich verspreche es!», antwortete Noah. Da sprach Hannah dazwischen: «Lily, was hat es mit diesem Wald auf sich?» Über Lilys Gesicht huschte ein Lächeln und sie liess den Zapfen herumgeben. Nun breitete sich das Lächeln über allen Gesichtern aus.