Ich trat auf den Balkon und schnupperte an der lauen Sommerabendluft. Es war ein wunderschöner Abend. Der Fluss, der sich durch die Berge schlängelte und dabei ein leises Plätschern von sich gab, leuchtete rötlich. Ich sah hinrüber zum Kaisergarten und sah zu, wie die gekringelten Sahrnbäume im Wind hin und her wankten und dabei leise klapperten. Ich sah herauf zu den Wolken, die sich von der untergehenden Sonne rötlich gefärbt hatten. Plötzlich erblickte ich ein schwarzes Zucken, das durch die Wolken ging. Ich sah mich um, niemand zu sehen, auch nichts zu hören. Das Plätschern des Flusses war verstummt. Keine klappernden Sahrnbäume. «Kathyan», höre ich die Stimme meiner Dienerin Teresa. Ich sah mich nochmals um. Das Plätschern des Flusses erklang wieder, die Sahrnbäume klapperten wieder, als wäre nichts geschehen. «Kathyan», die Stimme Teresas klang ungeduldig, deshalb beschloss ich sie nicht mehr warten zu lassen. Sie sah mich vorwurfsvoll an. «Na, endlich», schnaubte sie, «ich habe dich schon ‘Zich’ mal gerufen!» – «Wir haben es doch nicht eilig», sagte ich beruhigend. «Doch», fuhr sie mich an. «Gibt es denn schon bald Abendmahl?», fragte ich. «Ja, schon in einer Stunde!», rief sie. «Nur keinen Stress», sagte ich und seufzte. «Wir müssen dir noch das Kleid anziehen, deinen Schmuck anlegen und dann noch passende Ohrringe dazu», zählte sie auf. Teresa lächelte mich an und hielt mir kurz darauf drei verschiedene Kleider zur Auswahl vor die Nase. Eines war kupferfarben und trug purpurrote Glitzersteine aufgestickt. Das andere war noch hässlicher. Es war schneeweiss mit grässlichen Sahrnbaum-ähnlichen Stickereien. Das dritte Kleid war mit Abstand das Schönste. Es war dunkelblau mit einem rabenschwarzen Überkleid. Ich endschied mich ohne lange zu überlegen für das Dritte. Ich zog es rasch über mein seidenes Unterkleid und strich die Falten sanft glatt. Teresa wollte meine Haare machen, doch ich mochte lieber meinen Zopf behalten, den ich mir selbst mit meinen rabenschwarzen Haaren geflochten hatte. Als wir fertig waren, führte mich Teresa zur Tür und machte einen kleinen Knicks, bevor sie sie öffnete. Während wir den kühlen Flur entlang gingen, fragte ich Teresa genervt, ob mein Vater schon wieder Gäste eingeladen hätte. Teresa nickte nur.
Als wir bei der Bibliothek waren, winkte uns mein Bruder zu. Ich lächelte zurück. Ihr müsst wissen, ich und mein Bruder mögen uns unheimlich gern. Ich glaube, wir haben uns noch nie gestritten. Er winkte mich zu sich und ich umarmte ihn. Seine kräftigen Arme waren gemütlich warm. «Was machst du hier, ich dachte du liest nicht gerne, Nahron?», fragte ich ihn stirnrunzelnd. Mein grosser Bruder warf einen Blick auf Teresa und sagte: «Würdest du uns kurz allein lassen?» Teresa verbeugte sich und bald waren ihre Schritte verstummt. Also sagte ich: «Was hast du hier zu suchen?» – «Kathyan», sagte er und strich mir über die Wange, so wie er es immer tat, wenn er sich Sorgen machte. Nahron packte mich am Ärmel und zog mich in die hinterste Ecke der Bibliothek. «Ich war heute im Dorf mit meinem Pferd Pluma. Dort traf ich eine ältere Dame. Sie hielt mich an und sagte: Du bist doch der Sohn des Kaisers.» Ich kicherte, weil Nahron seine Stimme verstellt hatte. Nahron räusperte sich und erzählte weiter: «Sie flüsterte mir ins Ohr: Geh in die Schlossbibliothek. Dort wirst du spannende Dinge über deinen Vater erfahren. Rette Arrgon. Sprich das Wort Kazuri nicht aus, das ist gefährlich!» Wir schauten uns nachdenklich an.
Dann begannen wir alle Bücher durchzublättern. Erschöpft lehnte ich mich ans Regal. Wir hatten jetzt schon so lange erfolgslos gesucht. Plötzlich hörte ich einen Knacks. Zwischen den zwei Regalen bildete sich eine Türe. Erstaunt musterte ich die goldene Türklinke. Zögernd betätigte ich die kühle Klinke. Staunend betrat ich den kleinen, geschmückten Saal. In der Mitte des Saals, ja wirklich, dort lag ein silbern verziertes Buch. Ich schnappte mir das Buch und umklammerte es mit meinen dürren Fingern. Ich verliess den Raum so schnell wie möglich. Als ich meinem Bruder das Buch zeigte, nahm er es schnell entgegen und las mir vor. Es warten lauter Daten drin:
- Juni: Üben
- Juli: Testen
Und da stand es: 15. Juli (das war heute): FLUCH KAZURI
Uns blieb der Mund offen stehen. Nahron klappte das Buch zu, als würde es den Fluch demnächst auslösen. «Kathyan», sagte er mit einem kalten Unterton, «wir müssen sofort zu Papa.» Ich erinnerte mich an das schwarze Zucken, das ich durch die Wolken gesehen hatte. Das hatte doch alles einen Zusammenhang. «Bitte nicht», sagte ich und unterdrückte eine Träne. Nahron packte meine Hand und wir rannten in Richtung Speisesaal. Wir rannten, als wäre der Tod persönlich hinter uns her. Wir rannten ohne zu zögern in den Saal, welchem ich so lange vertraut, aber doch nie etwas über ihn gewusst hatte. Und jetzt fühlte ich mich so, als wüsste ich alles.
Ich war die Erste, die das Wort ergriff und schrie: «Vater, warum hast du das getan? Warum willst du Arrgon verfluchen?» Zuerst sah Kaiser Moltean verwirrt aus, doch dann formten seine Lippen ein boshaftes Lächeln. «Weil mir das unbesiegbare Macht verschafft», antwortete er. «Vater», schluchzte ich. «Nenne mich nicht Vater», sagte er. «Ich bin nicht dein Vater. Deine Eltern haben euch mir überlassen, weil sie kein Geld mehr hatten. Sie hätten euch nicht ernähren können.»
Ich brach in Tränen aus. Die dicken Kugeln brannten auf meiner Wange. Nahron schlang den Arm um mich. Ein Gast meldete sich und sagte: «Allerdings ist der Fluch zu Ende, wenn ihr zwei das Land verlasst.» Der Kaiser warf ihm einen furiosen Blick zu, bevor Nahron ihm vor die Füsse spuckte. Nahron warf mir einen vielsagenden Blick zu und wir rannten aus dem Saal in die Stadt, wo wir uns irgendwelche Pferde schnappten.
Als wir auf den Sattel stiegen, riss ich mir mein Kleid auf, aber das war mit ziemlich egal. Wir verliessen den Hof und galoppierten Hand in Hand auf die Felder zu.