Vor Thea liefen zwei Männer. Sie konnte die Gesichter, die von schwarzen Kapuzen verborgen waren, nicht genau erkennen. Die beiden Gestalten bogen in eine dunkle, schwach von Strassenlaternen beleuchtete Gasse. Auf der linken Seite waren etwa ein Dutzend baufällige Häuser, auf der rechten wuchsen Sträucher, die den Männern beim Gehen um die Knöchel schlugen. Spontan folgte ihnen Thea, obwohl sie wusste, dass sie es nicht tun sollte, besonders nachdem am Donnerstag ein Schwerverbrecher ohne jegliche Spuren zu hinterlassen aus seiner Zelle geflohen war. Von der Dunkelheit verborgen schlich sie den beiden hinterher. Etwa fünf Minuten später blieben diese stehen. «Hier können wir doch zurück, Pacof? Du weisst, wie ich diese Welt hasse!», erklärte der Grössere. Der Kleinere nahm etwas in die Hand, was Thea nicht erkennen konnte. Eine Ratte, die eng an Thea vorbeirannte, liess sie aufkreischen. Der Mann, dessen Namen Thea noch nicht wusste, drehte sich um und durchbohrte sie mit seinen leuchtend blauen Augen, die trotz der schönen Farbe unnatürlich kalt wirkten. «Gehen wir!», forderte er gleichzeitig seinen Partner auf. Dann waren sie weg.

Thea rannte zur Stelle, wo die beiden verschwunden waren. Sie fand nichts ausser ein mit Erde bedecktes Scherbenstück. Sie reinigte es vorsichtig und schaute es genauer an. Da wurde es dunkel vor ihren Augen.
«War das dein erster Übergang?», fragte eine besorgt wirkende Stimme. Ein Mädchen mit langen, roten Haaren erschien in Theas Blickfeld. Thea starrte sie an und begann sich zu erinnern: «Wo sind die Männer? Und wer bist du überhaupt?» – «Mein Name ist Maéva. Ich weiss nicht, was du mit den Männern meinst», antwortete das fremde Mädchen und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Thea sah sich um. Sie war in einem Zimmer. Ein mit Büchern vollgestapeltes Regal stand in einer Ecke, daneben ein mächtiger Schreibtisch. Ansonsten war das Zimmer karg und leer.  «Wie heisst du?», holte Maéva’s Stimme sie zurück in die Wirklichkeit. «Thea», sagte sie. Maéva warf ihr einen Mantel zu: «Hier nimm! Draussen schneit es.» – «Das kann nicht sein!», widersprach Thea. «In meiner Welt schneit es jetzt, in deiner nicht», erklärte Maéva. Thea schaute ungläubig. «Bevor ich dir alles erklären kann, muss ich dich etwas fragen», bemerkte Maéva, während sie bereits zur Tür hinausging. Es schneite wirklich. Sie liefen eine Strasse entlang, die eine überraschend grosse Ähnlichkeit hatte mit jener, auf der sie vor wenigen Minuten den Männern nachgeschlichen war. Auch hier schlugen ihr die Sträucher um die Knöchel. Thea bereute, dass sie den Männern gefolgt und so an einem unbekannten Ort gelandet war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie heim finden würde.

Maéva blieb vor einem Plakat stehen. Thea meinte zuerst, dass es ein typisches Fahndungsblatt nach dem entflohenen Häftling sei, wie es in ihrer Welt überall aushing. Doch als sie genauer hinschaute, stand nicht wie sonst eine Warnung, sondern mit grossen Buchstaben «König» darauf. «Kennst du ihn?», fragte Maéva. – «Oh, ja. Er hat einen kostbaren Dolch geklaut und kam deswegen ins Gefängnis. Eines Nachts aber ist er spurlos verschwunden», antwortete Thea.

«Natürlich! Dafür ging er so oft in die andere Welt», murmelte Maéva. «Ich schulde dir noch eine Erklärung zum Ort: Du bist in einer Art Parallelwelt. Durch den Spiegel, in den du geschaut hast, bist du zu uns gekommen. Jeder kann dieses Tor nutzen. Viele tun es und wünschen sich gleich in die eigene Welt zurück, meist unbewusst. Es gibt aber Leute, die es für Verbrechen nutzen, wie zum Beispiel Deimos, den wir hier auf dem Plakat sehen. Er klaut Gegenstände aus eurer Welt, um seine Macht bei uns auszubauen. Du musst wissen, dass Leute unseresgleichen keine Waffen herstellen können. So hat Deimos eben den Dolch aus deiner Stadt entwendet und hat damit unseren König getötet. Jetzt…»

«Man muss sich nur hinwünschen, um in die eigene Welt zurückzukommen?», unterbrach Thea das andere Mädchen. Maéva bestätigte es ihr und fürchtete, dass Thea gleich heimkehrte. Doch diese wollte mehr über Deimos erfahren: «Gibt es nichts, um ihn aufzuhalten? Etwas, das ihn zwingen könnte, seine Taten vor allen Leuten zu gestehen? Was weiss ich, einen Zaubertrank zum Beispiel.» Maéva starrte sie fassungslos an: «Kazuri! Das ist die Lösung. Wer diesen Trank braut, kann dem Trinkenden die Wahrheit entlocken.»

Nun funkelten die Augen der beiden Mädchen voller Tatendrang. Maéva erklärte, dass das Rezept des Trankes einfach sei. Man brauche drei Zutaten, die mit dem Thema Wahrheit zu tun haben. Die Gegenstände kannte sie aber nicht. Thea wusste Rat: «Schauen wir in den Büchern nach!»

Eine Stunde verbrachten die Mädchen damit, sämtliche Lexika von vorne bis hinten durchzublättern, nichts zu finden und sie enttäuscht zur Seite zu legen. Plötzlich entdeckte Thea ein loses Blatt, worauf die Grundzutaten für Kazuri beschrieben waren:

Ein Stein von funkelndem Grün,

sagt man die Wahrheit, wird dieser blühn.

Dazu noch ein Stock von blauer Klarheit,

der wurde, sagt man, berührt von der Wahrheit.

Wenn ich dir sage, was den dritten Gegenstand betrifft,

würde der Trank wirken wie wahres Gift.

«Ich weiss, wo die Gegenstände sind!», freute sich Maéva. Bald gelangten die Mädchen mit dem Blatt in Händen auf eine Waldlichtung. Maéva meinte, da vor Jahren einen azurblauen Ast gesehen zu haben. Zunächst fanden sie nichts. Erst als sie unter der Schneedecke suchten, schrie Thea begeistert auf: «Hier ist der blaue Ast! Und auch der Stein liegt da!» Maéva grübelte: «Vielleicht hat jemand die Gegenstände versteckt und ist auf der Suche nach dem dritten?“» – «So ist es!», sagte eine eisige Stimme hinter ihnen. Es war einer der Männer, denen Thea gefolgt war. Dieser riss sich die blauen Kontaktlinsen aus den Augen und sie begriff, dass es sich um Deimos höchstpersönlich handelte.

Er band die protestierenden Mädchen fest und kündigte spöttisch lächelnd an: «Ich werde den letzten Gegenstand holen. Ihr werdet wohl hier warten müssen.»

«Was machen wir jetzt?», fragte Maéva verzweifelt und begann, die Fesseln zu lösen. Als sich beide befreit hatten, lasen sich nochmals den Spruch aufmerksam durch. «Funktioniert der Trank mit nur zwei Gegenständen?», überlegten sie. Thea durchzuckte ein Geistesblitz: «Wir nehmen dieses Blatt! Es geht ja auch um Wahrheit, nicht wahr?» Sogleich mischten sie die Zutaten in einer Flasche. Sekunden passierte nichts, doch plötzlich wurde der Inhalt zu einer violetten Flüssigkeit.

«Hör zu, du musst auf den Baum klettern und wenn Deimos zurückkommt, wird er denken, du hättest dich zurückgewünscht. Ich werde ihn nach seiner Tat fragen und dazu bringen, etwas darüber zu verraten. Du überschüttest ihn dabei mit dem Zaubertrank. Anschliessend musst du dich sofort zurück in deine Welt wünschen», sagte Maéva. Die Mädchen umarmten sich und versprachen, sich gegenseitig zu besuchen.

Thea kletterte auf den Baum und Maéva wartete unten. Keine zwei Minuten später kehrte Deimos zurück. Sein dritter Gegenstand in der Hand war nicht zu erkennen. «Warum wollen Sie diesen Trank brauen?», fragte ihn Maéva.
«Niemand wird mich mehr belügen können», begann Deimos. Das war Theas Einsatz. Sie kippte den ganzen Kazuri über ihn. Was dann passierte, bekam Thea nicht mehr mit. Sicher auf der Gasse angekommen, machte sie sich auf den Heimweg und entdeckte kein einziges Fahndungsplakat mehr: Es hatte geklappt!