Vera war ein sehr, sehr neugieriges Kind. Sie hatte blond-braune Haare, blaue Augen und war elf Jahre alt.  Als sie einmal in den Wald Brombeeren pflücken ging, sah sie eine Tür. Das war natürlich keine normale Tür, sondern eine Tür, die in ein kleines Haus führte. Sie sah schon ziemlich alt und morsch aus. Ausserdem war sie grösstenteils mit Moos bewachsen. Vor der Tür prangte ein grosses Schild mit der Aufschrift: «Gefahr! Zutritt verboten! Keine Haft für Unfälle!» Dieses Haus war umgeben von jeder Menge Wald und hohen Dornbüschen. Sie sah diese Tür nur durch Zufall, weil an dem Dornengebüsch vor dem Haus sehr reife Brombeeren hingen. Was verbarg sich hinter dieser Tür? Wieso durfte man da nicht hineingehen? Diese Fragen stellte sich Vera auch. «Ich muss da reingehen!“, dachte Vera laut. Sie fragte viele Leute aus ihrem Dorf, doch keiner wollte mit ihr zusammen das Geheimnis um diese Tür lösen. Alle sagten wie das Schild, dass es gefährlich sei, dort reinzugehen.

An einem Tag ging Vera ebenfalls in den Wald. Dieses Mal aber nicht, um Brombeeren zu pflücken, sondern um das Geheimnis dieser Tür zu lüften. Sie packte den Mut und wollte reingehen. Doch einen Zentimeter vor der Tür bremste sie abrupt ab. «Was, wenn hinter dieser Tür ein gefährliches Tier ist? Ein Räuber? Eine Hexe? Warte, nein, Hexen gibt es nicht! Jetzt denke ich mir schon Fantasiesachen aus!», überlegte sich Vera jetzt doch ein bisschen ängstlich. Sie wischte sich die schlechten Gedanken aus dem Gehirn und dachte an schöne Sachen: «Es könnte einen Haufen leckeren Kuchen haben! Oder viele Eichhörnchen!» Sie fasste erneut Mut und diesmal kam sie bis zur Türklinke. Dann bremste sie wieder ab. «Wieso kann ich das nicht!? Ich will das doch machen! Okay, Vera, du gehst da jetzt rein!», befahl sich Vera. Sie griff zur Türklinke und drückte sie runter. Die Tür sprang gleich auf. Vera schaute ehrfürchtig in den Raum und ging dann vorsichtig rein. Ihre Erwartungen waren vor der Tür sehr hoch gewesen. Doch hier platzten sie: Im Raum waren sehr, sehr, sehr viele Bücher. Alles war gestaltet wie eine Bibliothek. Es waren alte, dicke, muffig riechende Bücher. Trotzdem nahm Vera eines der Bücher heraus. Das Buch war sehr staubig, aber man konnte den Titel lesen. Es hiess: «Das Bücherland». Kurz darauf quoll dicker Nebel aus dem Buch und er verteilte sich im Raum. Vera stiess einen spitzen Schrei aus. Sie wollte wieder aus dem Haus gehen, aber wo mal eine Tür war, war jetzt nur noch eine Wand! Vera fühlte sich schrecklich. Sie wurde ganz hektisch und überlegte sich verschiedene Möglichkeiten. Es gab nur zwei Möglichkeiten: 1. Sie liess sich vom Nebel verschlucken. 2. Sie rannte weg vom Nebel, irgendwo tiefer in das Haus hinein.

Vera entschied sich für die 2. Möglichkeit: Wegrennen! Sie rannte los, mitten in den Nebel hinein. Doch plötzlich spürte sie keinen Boden mehr unter ihren Füssen! Er war weg! Sie fiel! Vera wurde ganz schwindelig. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

«Wo bin ich?», dachte Vera laut. «Du bist im Bücherland!» – «Ahhhh, wer spricht hier?» Vera war ganz verwirrt. Eben war sie doch noch in diesem alten Haus und jetzt war sie in weiss nicht welchem Land! «Ich bin Herr Buch!» – «Aha, und wo sind Sie?» – «Ich bin neben dir», sagte der geheimnisvolle Herr Buch, «auf der Wiese». Vera sah ihn nicht, doch plötzlich nahm sie ein sprechendes Buch auf der Wiese wahr. Sie fragte Herrn Buch, warum er sprechen konnte. Darauf antwortete Herr Buch: «Das ist einfach so! Sonst könnte ich mich ja gar nicht mit anderen verständigen. Es kommt nicht oft vor, dass Bücher dieser Art zu uns durch das Portal kommen. Ihr seid doch Manschen, oder?» – «Menschen», korrigierte Vera. «Gehört der Raum mit den Büchern eigentlich auch zu eurem Bücherland?» – «Nicht ganz. Er ist ein Zwischenraum zwischen unseren Welten. Erde – Bücherland», erklärte das sprechende Buch. Vera war interessiert an diesem Bücherland und bat das Buch, es ihr zu zeigen. «Klaro! Komm mit!»

Beide erhoben sich und das Buch… Nanu? Es konnte fliegen? Vera war verwundert und fragte, wieso es jetzt auch noch fliegen konnte. «Natürlich kann ich das! Wie sollte ich mich sonst bewegen!» – «Stimmt», erwiderte Vera. Sie gingen über Wiesen, durch Wäldchen und an Flüssen vorbei. Die Landschaft war absolut märchenhaft. «Ich freue mich ja so, dass du jetzt bei uns lebst!» – «Da übertreibst du aber! Ich gehe nämlich wieder zurück.» – «Das wird aber nicht so einfach werden!» – «Wieso denn nicht?», sagte Vera erschrocken. Sie fand es zwar schön und gut in diesem Land, aber für immer hierbleiben? Nein danke! «Ich erkläre es dir: Also, wenn du nicht bis zwölf Uhr nachts aus unserer Welt bist, verwandelst du dich in ein Buch.» Vera rief ganz entsetzt aus und schrie, dass sie aber kein Buch sein wollte. «Um das zu verhindern, musst du ein Haar von einem Troll haben. Damit kannst du wieder in deine Welt zurückgehen, also durch die Tür, das Portal, um genau zu sein, wenn es vor zwölf Uhr ist.»

Beide blieben stehen. «A… aber… aber… kann ich dann wirklich nicht zurückgehen?» Herr Buch bejahte. «Aber du kannst ja vor zwölf Uhr rausgehen, wenn du ein Trollhaar hast.» – «Es gibt hier Trolle? Trolle sind doch böse!» Herr Buch erklärte Vera, dass die bösen Trolle dunkelgrüne Haare hatten, es aber auch nette Trolle mit hellgrünen Haaren gab. «Ausserdem darfst du ihnen das Haar nicht ausreissen, sondern du musst sie darum bitten. Sonst wird deine Zeit zum Rausgehen beendet», redete das Buch in einem Fluss. «Das sind ganz viele schlechte Neuigkeiten! Ich hasse dieses Land jetzt schon! Ahhhhrrrg!» Vera war ganz aufgewühlt. Vor einer Minute fand sie es noch schön in diesem Land und jetzt war es die reine Hölle! «Okay. Wo finde ich so einen netten Troll?» Sie schaffte es nicht, sich zu beruhigen. «Die wohnen alle in der grossen Schlucht.» Diese war einhundert Bücherlängen von hier nördlich entfernt, wie das Buch erzählte. Das klang lange, aber Vera machte sich auf den Weg.

«Huhu Trolle, wo seid ihr?», rief Vera gegen die schroffen Felskanten und in die graue, dunkle Schlucht. «Bitte kommt zu mir! Ich brauche eure Hilfe!»

Von einer Sekunde auf die andere starrten sie dutzende Glubschaugen an. Vera schrie für einen Moment schrill auf, denn sie erschrak sehr. Noch bevor Vera fertig geschrien hatte, waren schon wieder alle weg. Vera wurde ganz verwirrt, aber sie wagte sich trotzdem weiter an den Felsen vorbei. «Hallo?», versuchte es Vera erneut. Diesmal kam nur ein Wesen mit Glubschaugen zum Vorschein. «WAS… WILLST… DU…?», fragte das Wesen. Es hatte dunkelgrüne Haare, war etwa 80 Zentimeter gross und hielt einen dicken Holzstock in der Hand. Dieser Troll sah nicht gerade freundlich aus! Und das Buch hatte ja gesagt, dass Trolle mit dunkelgrünen Haaren böse sind. «Ähm, ich wollte nur fragen, ob ich ein Trollhaar haben darf. Darf ich?» Auf Veras Gesicht bildete sich schon ein kleines Lächeln, das aber schlagartig wieder erlosch, als der Troll Folgendes sagte: «Ich gebe dir sicher kein Haar von mir und meine Brüder auch nicht!» Da erschienen wieder die vielen Glubschaugen und alle sagten einstimmig: «Genau!» Da wusste Vera, dass sie sich weiter auf die Suche nach anderen Trollen machen musste. Sie drehte sich um und ging um die Felswand herum, sodass sie wieder im Freien war. In diesem Moment merkte sie, dass es noch eine andere Schlucht neben der Schlucht mit den bösen Trollen gab. Sie sah heller, freundlicher und grösser als die andere Schlucht aus. Vera versuchte erneut ihr Glück und sagte: «Hallo, ist da wer?» Keine Antwort. «Bitte, bitte! Ich brauche eure Hilfe!», bat sie.

Da tauchte ein kleines Paar Glubschaugen auf. Das Wesen kroch kichernd vor ihr über den Weg, seelenruhig, ohne sie zu beachten. Es hatte hellgrüne Haare, war 30 Zentimeter gross und hatte im Vergleich zu den bösen Trollen viel hellere Haut. «Hallo, du! Du bist sicher ein Troll!» Der Troll antwortete nicht. Hinter dem kleinen Troll erschien ein grösserer Troll. Etwa 70 Zentimeter schätzte Vera. Er schimpfte sehr fest: «Billy, ich habe dir doch gesagt, dass du nicht aus dem Haus gehen darfst! Das ist gefährlich! Du kommst jetzt sofort mit und du kriegst heute Abend nur Erdbrei und keine Waldbeeren!» Vera räusperte sich. «Entschuldigung, wenn ich störe, aber darf ich mal etwas sagen? Ich bin Vera aus dem Menschenland, auch bekannt als Erde, und ich will aus diesem Land wieder zurück zur Erde gehen. Dafür benötige ich aber ein Haar eines Trolles. Deshalb bin ich hier.»

Die zwei Trolle starrten sie mit offenen Mündern an. Vera fragte, ob sie etwas Falsches gesagt hätte. Nichts veränderte sich. Plötzlich kam Leben in die Trolle und sie rannten gemeinsam hinter einen schützenden Felsen. «Wa… was machst du hier?», fragte der grosse Trolle ängstlich. «Ihr müsst keine Angst haben. Ich bin durch eine Tür gegangen und in eure Welt teleportiert worden. Um wieder rauszukommen, brauche ich ein Haar von euch.» Vera bat die Trolle mit einem Welpenblick um ein Haar. Die Trolle kamen wieder aus ihrem Versteck heraus. Der grosse Troll riss sich ein Haar aus. Es war eine schöne, hellgrüne Farbe. Er gab es Vera vorsichtig.

«Vielen, vielen Dank!» – «Bitte! Ich bin Ranga und das ist Billy», sagte der grosse Troll. «Und nochmals vielen Dank! Ich muss jetzt gehen. Bis ein andermal!», verabschiedete sich Vera. Sie machte sich wieder auf den Weg zurück zum Portal. Während sie ging, schauten ihr die Trolle noch nach.

Als Vera die einhundert Bücherlängen wieder zurückgelaufen war, sah sie nirgendwo das Portal. «Hä, wo ist diese verflixte Tür?» Vera war schon wieder verwirrt. «Du musst es mit dem Trollhaar finden.» – «Ah, du schon wieder!» Es war Herr Buch! «Und zwar schnell, denn dein Arm hat sich schon aufgelöst.» – «Was?! Oh, nein! Mein Arm!» Vera konnte ihren Arm weder spüren noch sehen. Sie bewegte sich auf und ab mit dem Trollhaar in der linken Hand.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stiess sie gegen etwas Hartes. Aber es war unsichtbar. Vera fragte, ob das sie Tür sei. «Ja, das ist sie. Du musst das Trollhaar in das Schlüsselloch stecken.» – «Aber ich sehe es nicht!» – «Du musst es finden!» Nach ein paar Sekunden fand Vera das Schlüsselloch und die Tür wurde sichtbar. Sie sprang ganz von alleine auf, ohne dass Vera sie berührte. «Schnell, geh! Du hast noch zehn Sekunden Zeit!», sagte Herr Buch aufgeregt. «Was!? Oh, nein! Tschüss Herr Buch und vielen Dank, dass sie mir geholfen haben!» Somit ging Vera durch die Tür. Das Trollhaar nahm sie mit. Sie merkte wieder, wie sie fiel. Sie fiel und fiel.

Vera fand sich wieder in der Bibliothek, heil und mit rechtem und linkem Arm. Auch das Trollhaar war in ihrer Hand. Vera atmete hörbar aus. Ach, wie froh sie war! Zum Glück war auch die Tür da und Vera ging mit schnellen Schritten hinaus. Sie atmete die frische, klare Waldluft ein.

Jetzt wusste Vera, dass sie nie einfach durch unerkundete Türen gehen sollte. Sie war so glücklich, dass sie es doch noch aus dieser verflixten, alten, komischen Tür geschafft hatte!