Samira war ein Strassenkind in einem Dorf im Nirgendwo. Das Dorf hiess Aquamarin und war von einer riesigen Mauer umgeben. In der Mauer waren Türen, durch die man in die Nachbarsländer gelangte. Samira wurde von den Dorfbewohnern verachtet. Nicht nur, weil sie ein Strassenkind war, sondern weil sie zwei verschiedenfarbige Augen, ein braunes und ein grünes, besass. In einer Felsnische der Mauer verbrachte Samira die Nächte. Das Wertvollste, was Samira besass, war ein Schlüssel. Er war aus echtem Silber, mit einem Smaragd in seiner Mitte. Sie trug ihn immer bei sich.
Es war der 31. März. Es war Samiras dreizehnter Geburtstag. Sie schlenderte genussvoll durch das Dorf. Es roch nach süssen Blüten. Alles war perfekt. Nur eine Sache störte Samira: Dass alle fröhlichen Leute, die ihr entgegenkamen, nach links und rechts auswichen und ihre Gespräche verstummten. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie kein Strassenkind wäre. Niemand würde sie verachten. Samira war so in ihre Gedanken versunken, dass sie ungeheuer erschrak. Wie aus dem Nichts erschien eine Tür im Mauerteil vor ihr. Samira befand sich im Westteil des Dorfes. Doch das Westtor befand sich sicher zweihundert Meter von hier entfernt. Ausserdem sahen die Tore, die ermöglichten, in die Nachbarsländer zu gelangen, ganz anders aus. Die Tore waren aus Eisen und ein einziges Gitter.
Doch dieses Gebilde war: Eine Tür. Eine Tür, die aus dunklem Holz gearbeitet und mit Edelsteinen, wie Rubinen, Amethysten und Aventurin, verziert war. In der Mitte prangte ein herzförmiger Aquamarin. Diese Tür hatte sie noch nie zuvor gesehen. Da war sie sich sicher.
Vor lauter Aufregung nahm Samira nicht wahr, wie der Schlüssel sie Richtung Tür zog. Als Samira dies bemerkte, war es bereits zu spät. Ein unfassbar starker Sog erfasste sie. Sie steckte den Schlüssel ins ebenfalls silbrige Schloss. «Die hat sie nicht mehr alle», hörte sie eine Stimme. Damit erntete die Stimme zustimmendes Gemurmel der Menschen, die sie umringten. Tränen stiegen Samira in die Augen. Sie wollte nur noch weg hier. Langsam und bedächtig drehte Samira den Schlüssel herum.
Das Scharnier quietschte so, als ob es schon Jahre nicht mehr geöffnet worden wäre. Samira öffnete die Tür, als handelte es sich um etwas sehr Zerbrechliches. Doch als sie vorsichtig den Kopf durch die Tür steckte, keuchte sie überrascht auf. Auf der anderen Seite war: Nichts. Gar nichts. Nicht einmal Farben. Und trotzdem stieg Samira langsam durch die Tür ins Unbekannte.
Das Dorf war in hellem Aufruhr. Denn für die Dorfbewohner sah es so aus, als wäre Samira durch die Mauer gestiegen und verschwunden. Alle fragten sich nur eins: Wo war das komische Mädchen?
Samira schlug die Augen auf. Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung in einem Regenwald. Samira hatte keine Ahnung, wie sie genau dahin kam. Doch etwas schien ihr seltsam. Die Blüten der Pflanzen waren alle schwarz. Und alle Blätter waren verdorrt. Je weiter Samira sich in das Dickicht wagte, desto elender sahen die Pflanzen aus. Vor einer Pflanze, die einst mal eine starke junge Palme war, kniete sie hin. Sanft strich Samira über ihre Blätter. Sie berührte die Blätter kaum, in der Angst sie könnten zu Staub zerfallen. Doch was danach geschah, verschlug Samira die Sprache. Die Palme bekam ihre Farbe langsam zurück. Auch um die anderen Pflanzen legte sich ein sanfter Farbschimmer. Das Kreischen eines Aras hallte durch das dicke Blätterdach.
Immer mehr Geräusche erfüllten die feuchte Luft. Alles schien zu leben. Plötzlich ertönte ein gedämpftes Knurren hinter Samira. Als sie sich umdrehte, blitzten ihr zwei goldene Augen entgegen. Dazu ein gold-braunes Fell mit dunklen Punktierungen und jeder Muskel darunter war angespannt. Die rundlichen Ohren waren angelegt und die Krallen tief in der weichen Erde versenkt. Vor Samira stand ein ausgewachsener Leopard. Doch dann wurden die schlitzförmigen Pupillen rund. Mit schief gelegtem Kopf musterte er sie. Langsam näherte sich Samira dem Leoparden. Der ergriff nicht wie erwartet die Flucht, sondern näherte sich seinerseits vorsichtig.
Direkt vor Samiras Füssen legte der Leopard sich auf den Rücken und wälzte sich wie eine Katze, die gestreichelt werden wollte. Zögernd begann Samira sein flauschiges Bauchfell zu kraulen. Der Leopard fing an wohlig zu schnurren. Nach einer Weile rappelte sich der Leopard auf. Er schlug mit dem Schwanz, als ob er Samira klar machen wollte, dass sie ihm folgen sollte. Zögernd schlich Samira hinter dem Leoparden her.
Erst als Samiras Magen richtig laut knurrte, machte sie eine Pause. An den Bäumen in der Umgebung wuchsen saftige Papayas. Der Leopard holte Samira eine. Das orange Fruchtfleisch schmeckte sehr süss.
Plötzlich begann der Leopard zu sprechen. «Samira», begann er mit seiner tiefen Stimme, «unser Reich schwebt in grosser Gefahr. Die Dunkelheit hat unser Reich heimgesucht.» Samira hatte keine Zeit, sich ihrer Verblüffung zu widmen. «Welche Dunkelheit?», fragte sie. «Die Dunkelheit, welche du vorhin mitansehen musstest», erklärte der Leopard. «Also die, die alles Leben auslöscht?», vergewisserte sich Samira. «Genau», bestätigte der Leopard. «Die Dunkelheitselfen sind dafür verantwortlich. Sie entziehen uns allen das Leben», erklärte der Leopard geduldig. «Was habe ich damit zu tun?», fragte Samira ungeduldig. «Du kannst uns helfen die Elfen auszulöschen», erklärte der Leopard aufgeregt. Samira fragte noch eine Sache. «Wie besiegt man so eine Dunkelheitselfe?», sprach Samira die Frage aus. «Das weiss niemand», antwortete der Leopard.
«Ich heisse Leo», änderte Leo das Thema. «Hast du Lust auf einen Ritt?», fragte er. «Na los!», rief Samira. Samira drückte sich dicht an Leos weiches Fell. Plötzlich sprintete Leo los. Doch Samira fürchtete sich nicht.
Als Leo zum Sprung ansetzte, setzte plötzlich sein Herz aus. Das spürte Samira deutlich. Sie sah gerade noch einen Schatten hinter einem Baum verschwinden.
Doch als Samira Leo an der Stelle, an der sein Herz war, berührte, war es gleich wieder dabei kräftig zu pumpen. Das beruhigte Samira ein bisschen. Sie berichtete, was geschehen war. «Das war eine Dunkelheitselfe», sagte Leo grimmig. «Los, wir verfolgen sie!», rief Samira entschlossen. Dies war nicht schwer. Denn überall, wo die Elfe vorbei gezischt war, war jegliches Leben verschwunden. So entstand eine Spur. Doch wenn Samira und Leo vorbei rauschten, tauchte das Leben wieder auf.
Plötzlich tauchte die Elfe vor ihnen auf. Sie war schwarz und ihr Gesicht war ganz abgemagert. Ihre Augen waren zu Schlitzen verzogen. Wie Samira feststellte, waren auch diese schwarz. Die Elfe zischte aggressiv. «Was wollt ihr von mir?», wollte die Elfe mit einer Stimme, die einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, wissen. Noch bevor Leo die Elfe unfreundlich beschimpfen konnte, fuhr Samira dazwischen: «Wir kommen in Frieden», und erntete damit einen vernichtenden Blick von Leo. «Wirklich?» Die Elfe war noch immer misstrauisch. «Ja!», versicherte Samira möglichst glaubwürdig. «Na gut», sagte die Elfe widerwillig. «Ich will euch glauben.»
Auf einmal hatte Samira eine Idee. Sie hatte bemerkt, dass die Elfe jeden Blick direkt in ihr grünes Auge vermied. Sie sprang von Leos Rücken. Die Dunkelheitselfe wich zurück. Blitzschnell sprang Samira auf die Elfe zu. Ganz knapp erwischte Samira die Elfe an ihrem Gewand. «Lass das!», protestierte die Elfe lautstark. In Samiras Händen strampelte es. «Versteinere!», rief die Dunkelheitselfe. Doch Samira riss den Kopf der Elfe hoch und zwang sie, sie anzusehen. Die Elfe kniff trotzig die Augen zu. Samira reichte es langsam. Grob zwang Samira die Elfe ein Auge zu öffnen. Kaum sah ihr die Elfe ins grüne Auge, änderte sich ihre Art sofort. Ihre Flügel nahmen einen grünlichen Schimmer an. Der Körper der Elfe schillerte in allen Farben.
«Du hast das magische Auge, von dem in der Legende die Rede war!», piepste ihr Stimmchen. «Welche Legende?», fragte Samira interessiert. «Die Legende des magischen Auges», sagte Leo ehrfürchtig. Die Elfe begann aufgeregt zu erzählen. Samira hörte gebannt zu. «Also, es gibt da so eine Legende. Diese Legende besagt, dass die Dunkelheitselfen von jemandem mit einem magischen Auge in Elfen der Farben verwandelt werden würden. So wie ich», fügte die Farbenelfe hinzu. «Und offensichtlich bist du diese Person», seufzte Leo.
«Wir müssen auch die anderen Dunkelheitselfen alle in Farbenelfen verwandeln», erklärte Samira. «Doch wir können unmöglich jede einzelne von ihnen einfangen und verwandeln. Das würde viel zu lange dauern», überlegte Samira. Die kleine Elfe nickte aufgeregt. «Na ja», meldete sich jetzt Leo zu Wort. «Unser Regenwald-Ältester Malcolm der Schmetterling hat exakt ein Bild deiner Augen auf den Flügeln. Er hat immer gesagt: «Solche Augen werden es sein, die uns retten. Aber auch exakt solche.» «Du meinst», unterbrach ihn Samira, «er kann dies übernehmen?» Neue Hoffnung keimte in Samira hoch. «Wir können fragen», schlug Leo vor. «Der Weg ist unser kleinstes Problem. Er wohnt hier gleich um die Ecke.»
Wie sich herausstellte, stimmte das. Nach ein paar Minuten erreichten sie eine Wasserstelle. Hier sollte Malcolm wohnen. Man erkannte ihn sofort. Er war gigantisch. Seine Flügel hatten sicher fünf Meter Spannweite.
«Was wollt ihr hier?», brummte Malcolm. Doch dann fiel sein Blick auf Samira. «Du bist die aus der Legende!», rief er übermütig. «Was tust du denn noch hier? Los, wir brauchen dich!», drängte Malcolm. «Wir sind noch hier, weil wir deine Hilfe brauchen», erklärte Samira. «Meine Hilfe? Du?», fragte Malcolm. «Ja», sagte Samira und erklärte ihren Plan.
Die Mittagssonne brannte heiss auf die Lichtung. Malcolm war startklar. «Jetzt!», flüsterte Samira. Malcolm stieg in die Luft und rief: «Dunkelheitselfen! Ihr herrscht schon über das ganze Waldstück. Wollt ihr nicht auch noch über den Himmel herrschen? Hier oben gibt’s etwas, das scheint viel zu hell zu sein», lotste Malcolm. Von überall erschienen schwarze Wesen. Die Falle war dabei zuzuschnappen. Malcolm schoss blitzschnell direkt vor die Sonne, sodass die Sonne genau durch die Augen auf seinen Flügeln schien. Die Elfen sahen nun alle ins magische Auge. Sie schrien, kreischten und jammerten. Doch das nützte ihnen nichts. Die Magie, die Samira für die Augen auf den Flügeln abgegeben hatte, hatte ihren Zweck erfüllt. Alle Dunkelheitselfen waren jetzt Farbenelfen.
Alle feierten zusammen. Nach etlichen Papayas dachte Samira darüber nach, wie es wäre, hier zu bleiben. Denn hier verspottete sie niemand. Und Samira hatte alle richtig liebgewonnen. Mit diesem Gedanken schlief Samira erschöpft ein.