Kapitel 1
In der Stadt Moorhausen lebte Ben. Er war acht Jahre alt und wohnte in einem schönen alten Bauernhaus. Seine Mutter hatte Krebs und war schon seit Längerem im Krankenhaus. Sein Vater arbeitete viel und war immer sehr müde nach der Arbeit. Früher, als seine Mutter noch zu Hause war, sorgte sie für ihn. Aber jetzt sorgte Ben für seine Mutter. Er ging jeden Tag nach der Schule zu ihr ins Krankenhaus. Er schob sie in ihrem Rollstuhl durch den Park und redete mit ihr über alles Mögliche. Auch seine Sorgen konnte er mit ihr teilen. Deshalb hatte er keine Zeit zum Spielen und auch keine Freunde. Jeden Tag, wirklich jeden Tag, ging er zu seiner Mutter. Und jeden Tag ging es ihr schlechter. Für Ben war klar: Bald ist es so weit, bald wird seine Mutter von ihm gehen. Jedes Mal wenn er daran dachte, versetzte es ihm einen großen Schmerz. Manchmal stellte Ben sich die Frage: «Was passiert, wenn seine Mutter stirbt? Ist er dann immer allein? Oder will er dann auch sterben? Nein, sonst wäre sein Vater sicher sehr traurig», dachte er. Wenn er auch sterben würde, dann wäre sein Vater ganz allein. Die Verzweiflung war groß. Ben sagte sich früher immer: «Noch ist es nicht so weit, es kommt alles gut.» Doch daran glaubte er schon lange nicht mehr. Er musste tapfer sein, aber ein Gedanke ließ ihn einfach nicht mehr los: «Was ist, wenn sein Vater eine neue Frau findet?» Dann wäre das seine Stiefmutter. Falls sie nett ist, wäre es ja gut. Aber wenn es so eine Stiefmutter ist wie bei Aschenputtel… Jedes Mal wurde ihm bei diesem Gedanken übel. Nein, seine Mutter durfte nicht sterben!

Kapitel 2
Es war der 23. Dezember 2018. Ben schlief tief und fest, als plötzlich sein Vater ins Zimmer rannte. Er war ganz aufgebracht. Zuerst wusste Ben nicht warum, doch nach fünf schrecklichen Minuten wusste er es. Er spürte, wie er bleich wurde und Tränen stiegen ihm in die Augen. Nach weiteren fünf Minuten saß er schon im Auto und sie fuhren ins Krankenhaus. Sie rannten in das Zimmer Nr. 13. Es war das Zimmer von Bens Mutter. Das Bett war leer! Ben hatte seinen Vater noch nie weinen gesehen. Es fühlte sich irgendwie komisch an. Da schoss Ben etwas durch den Kopf: «Was soll er denn jetzt machen ohne seine Mutter? Sie war immer für ihn da.» Das letzte, was seine Mutter ihm gesagt hatte, war: «Ben, du musst Freunde finden, denn man weiß nie, wann es so weit ist und ich dich und deinen Vater verlassen muss. Ben, dann bist du viel allein, denn dein Vater muss arbeiten. Spiel doch mal mit Luca Sonnenfeld aus deiner Klasse.» – «Ben, Ben!» Sein Vater riss ihn aus seinen Gedanken. «Ben, kommst du?» «Ja, ja, Papa, gleich», erwiderte er. Er nahm die goldene Kette vom Nachttischchen. Die hatte sein Vater seiner Mutter zum Hochzeitstag geschenkt. Sie war mit kleinen Edelsteinen verziert. Auf der Fahrt nach Hause sprachen Ben und sein Vater kein Wort. Zu Hause in seinem Zimmer war alles still. Ben hörte sein Herz laut klopfen. Er setzte sich auf das Bett. Die goldene Kette legte er in eine kleine Holzkiste, die er einmal mit seiner Mutter angemalt hatte. Dort lag auch eine kleine Karte von seiner Mutter mit der Aufschrift: «Mein Herz gehört dir». Grosse Tränen kullerten über Bens Wangen.

Kapitel 3
Es war der 23. Februar 2019. Zwei Monate waren nun schon vergangen und Ben hatte den Schmerz immer noch nicht verarbeitet. Sein Vater ging wieder jeden Tag arbeiten und Ben war oft allein. An vielen Tagen fühlte er sich einsam. Er konnte mit niemandem mehr über das reden, was er den ganzen Tag gemacht hatte. Niemand interessierte sich für seine Gedanken. Sein Vater war in seiner Welt und versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Bis jetzt brachte er keine neue Frau nach Hause, das war gut so.
Um seinen Schmerz ein bisschen zu lindern, ging Ben an einem Abend auf den Dachboden, um Fotos von seiner Mutter zu suchen. Er wühlte in allen Kisten herum, aber er fand die Fotokiste einfach nicht. «Wo ist diese blöde Kiste?», dachte er. Er wollte schon aufgeben, da sah er, wie hinter einem Kistenstapel warmes Licht durchschimmerte. Er schob die Kisten weg und allmählich konnte er den Umriss einer Tür erkennen. Als alle Kisten weggeräumt waren, stand eine große Tür vor ihm. Die Tür war imposant und aus edlem, dunklem Holz. Sie hatte schöne, detailreiche Schnitzereien. Durch den Türspalt schimmerte warmes, weiches Licht. Was war wohl hinter dieser Tür? Ben machte sie langsam auf. Sie war schwer und hinter der Tür war eine große, saftig grüne Wiese zu erkennen. Ben war plötzlich barfuß und das Gras kitzelte an seinen Füßen. Es fühlte sich einfach unglaublich an. In der Mitte der Wiese stand ein großer, wunderschöner Baum.

Unter dem Baum stand eine Frau. Sie hatte ein großes, wallendes Kleid an. Als Ben sie genauer ansah, erkannte er seine Mutter. Er rannte los. Seine Mutter schloss ihn in ihre Arme. «Mama! Was machst du hier?», rief Ben vor Freude. Seine Mutter wiegte ihn in ihren Armen. Sie sah so schön und glücklich aus. «Ben, mir geht es gut. Schön, dass du da bist», sagte sie leise. Sie legten sich unter den großen Baum und hatten sich viel zu erzählen.

Kapitel 4
Ben traf seine Mutter jetzt schon drei Monate lang jeden Tag nach der Schule. Er war jeden Tag weniger traurig. Manchmal konnte er in der Schule sogar wieder über die Witze von seiner Lehrerin lachen. Nach den Hausaufgaben ging er jeden Tag, naja, fast jeden Tag zur Himmelstüre im Dachboden. Das warme Licht hinter der Tür war so angenehm. Seine Mutter wartete immer auf ihn. Sie sagte einmal: «Ben, du musst nicht mehr jeden Tag kommen, spiel doch mit Kindern aus deiner Schule.» Aber Ben wollte nicht. Er wollte möglichst oft bei seiner Mutter sein.

An einem regnerischen Tag im Frühling fragte ihn sein Vater, warum er immer nach der Schule auf den Dachboden gehe. Ben wusste zuerst nicht, ob er es ihm sagen sollte. Dann sagte er zu seinem Vater: «Komm, ich zeige dir etwas.» Zusammen stiegen sie die Treppe zum Estrich hinauf. «Ich muss dir etwas sagen: Auf dem Dachboden, dort hat es eine Tür, die zu Mama führt. Es ist eine Himmelstüre, Papa.»

Sein Vater schaute ihn verdutzt an, er dachte wahrscheinlich, dass Ben fantasierte, aber er folgte ihm trotzdem. Ben freute sich schon auf den Moment, wo sein Vater seine Mutter sah, er vermisste sie ja genauso wie er. Bens Herz klopfte laut, er war richtig nervös. Doch als sie oben waren, war keine Tür zu sehen! Ben konnte es nicht glauben. Aber… war da wirklich nie eine Tür gewesen? «Papa, da war wirklich eine Türe, die zu Mama führte», sagte er leise. Er war traurig und verzweifelt. Hatte er das alles nur geträumt? Nein, nein, dachte er, das war echt! Sein Vater nahm ihn in den Arm und sagte: «Ben, für uns war es eine schwierige Zeit nach dem Tod deiner Mutter, aber alles wird gut.» Ben legte seinen Kopf auf seine Schulter und weinte.

Kapitel 5
Es war ein warmer Sommertag im Juli. Die Sommerferien standen vor der Tür. Ben ging wie jeden Morgen in die Schule. In der Pause fragte Luca Sonnenfeld, ob Ben mit ihm spielen möchte und er sagte ja. Seitdem waren sie beste Freunde. An die Himmelstüre dachte er noch oft und er wusste, dass er seine Mutter irgendwann wiedersehen würde. Und das war ein schönes Gefühl.