Gregor bückt sich und greift nach der Feder. Ein schönes Exemplar von einer Silbermöwe. Die Spitze schwarz, der Rand weiss und der Rest grau. Von diesen Federn hat er viele in seiner Kiste im Regal versteckt, hinter seinen Fantasy-Büchern. Er verbirgt sie, damit seine Adoptivbrüder Remo und Rocco sie ihm nicht wegnehmen und ihn nicht damit piesacken. Gregor findet die beiden doof, sie finden ihn doof. Das sind nicht gerade gute Voraussetzungen für eine Bruderschaft.

Er erinnert sich, wie sie ihn damals angesehen haben, als sie ihn nach dem Tod seiner Mutter aus dem Waisenhaus abgeholt hatten. Thomas, sein neuer Vater, klopfte ihm auf seine Schulter und sagte: «Willkommen in der Familie.» Valérie lächelte ihn an, nahm seine Hand und streichelte sie. «Zur Feier des Tages gehen wir ein Eis essen», sagte seine neue Mutter. Die Zwillinge sahen ihn mit verachtenden Blicken an. Gregor hörte Remo flüstern: «Der ist doch niemals fünf Jahre alt! Er ist kleiner als mein Teddybär.»
Gregor steckt die Feder in seine Umhängetasche und geht weiter. Alles ist ruhig, er hört nur das Geräusch der Wellen. Ein Kreischen erfüllt die Luft. Gregor fährt herum, da sieht er ein Dutzend Möwen auf einem Fisch herumhacken. Federn fliegen. Eine grössere Möwe hat sich den Fisch geschnappt und gleitet mit dem Wind davon, alle anderen hinterher. Gregor sieht ihnen lange nach. «Das muss schön sein!», denkt er sich und rennt zum Ort des Kampfes. Etwa zwanzig Federn liegen im Sand. Gregor nimmt sie und legt sie zu den anderen in die Tasche.

Plötzlich hört er jemanden rufen. Es ist Valérie. Sie steht auf einer der Dünen und winkt ihm zu. «Gregor, komm, wir gehen zurück ins Ferienhaus, um zu packen.» Gregor schiessen Gedanken durch den Kopf. Diese fünf Wochen auf Kreta sind viel zu schnell vorbeige- gangen. Er wird es vermissen, am Strand Federn zu sammeln und den Möwen beim Gleiten zuzusehen. Gleichzeitig freut er sich darauf, alle seine Federn in seinem Zimmer zu Hause auszubreiten und die neuen dazuzulegen. Er wird mit einer Nadel durch den Kiel stechen und einen Faden mit einer Etikette dran durchfädeln. Diese wird er mit der Position der Feder am Flügel beschriften: Handschwingen, Handdecken, Daumenfittich, Armschwingen, grosse, mittlere und kleine Armdecken und Schirmfedern.

Alle 409 Federn plus die 21 von heute sind 430. Allerdings sind fünf Bürzelfedern, also kann er die nicht brauchen. Jetzt sind es nur noch 425. Wenn er alle Federn zu Hause zu zwei Flügeln zusammensetzt, kann er sehen, wie viele Federn noch fehlen. «Ich komme Val!», ruft er seiner Adoptivmutter zu und lässt das Meer hinter sich.
Im Ferienhaus angekommen, bekommt er ein Kompliment. Die Zwillinge stehen auf der Treppe. «Gratuliere!», sagt Remo. Du bist ja schon wieder einen Hundertstel Millimeter gewachsen. «Wenn du so weitermachst, bist du schon bald grösser als mein Teddybär.» Hinter ihm kichert Rocco leise. Gregor macht sich nichts daraus. «Soll der doch nur über meine Körpergrösse lachen. Er und sein Bruder sind doch nicht weniger adoptiert als ich!»

An diesem Abend hat Gregor keinen Hunger und geht deshalb ohne Essen ins Bett. Dort denkt er nochmals an das «Kompliment» von Remo. Fürs Fliegen ist seine Grösse ein Vorteil. «Wenn ich längere Arme hätte und schwerer wäre, würde ich grössere Flügel brauchen und also auch mehr Federn», denkt Gregor. «Ich werde fliegen wie Ikaros, aber ohne abzustürzen. Ich werde die Flügel an meine Jackenärmel nähen und tief fliegen.» Er steht an einer Klippe. Gregor blickt den Möwen nach, die ins Meer tauchen und mit Fischen in den Schnäbeln wieder erscheinen.

Plötzlich sitzt ein Junge neben ihm und lässt seine Beine über dem Meer baumeln. Er ist etwa gleich alt wie er und trägt verschlissene Flügel. Sein T-Shirt ist zerrissen und seine langen Haare flattern im Wind. Ikaros! «Hi!», sagt der Junge. «Ich sehe dir jeden Tag aus dem Hades zu. Ich weiss, wie gerne du fliegen willst.» Gregor nickt. «Du wirst es schaffen!», sagt Ikaros. «Aber du darfst nicht aufgeben. Mein Vater Daidalos und ich haben es geschafft. Also kannst du es erst recht! Ich glaube an dich.» Ikaros winkt Gregor zu und stürzt sich mit seinen kaputten Flügeln in die Tiefe. Gregor ruft ihm nach: «Warte! Komm zurück!» Doch in diesem Moment erwacht er.

Nach einer kurzen Autofahrt und einem ewigen Check-in sitzt Gregor im Flugzeug an einem Fensterplatz. In der gleichen Reihe sitzen Thomas und Valérie. Von den Zwillingen hört man nichts. Sie sitzen mit geschlossenen Augen auf der anderen Seite des Ganges und pressen sich in ihren Sitz. Sie haben Flugangst. Die Motoren starten und das Flugzeug schiesst über die Rollbahn. Gregor wird in den Sessel gedrückt. Er macht die Augen zu, öffnet sie nach ein paar Minuten wieder und blickt aus dem Fenster. Unter sich sieht er das Meer. Gregor fliegt.