Ich und mein bester Freund Luca liefen durch den Wald. Wir lachten und spielten. Auf einmal tauchte ein riesiger Bär auf und griff uns an. Wir rannten davon, aber der Weg endete an einer Felswand – der Bär kam immer näher und näher, bis Luca plötzlich vor mich sprang und vom Bären gepackt und mitgeschleift wurde. «Lucaaaa!»

Als ich aufwachte, war es schon Viertel vor Acht! Ich hatte mal wieder verschlafen. Luca passierte das nie – aber bei mir war das schon das neunte Mal in diesem Schuljahr! Oh nein, wenn ich mich jetzt nicht beeilte, dann würde ich nicht in die grosse Pause dürfen. Und dann wäre Luca allein, und ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was dann passieren könnte. Luca und ich, wir sind zwar grundverschieden, aber unzertrennlich. Luca lebt in der Stadt, dort ist es grau und dunkel und die Luft wegen der vielen Autos ganz stickig. Bei mir ist es genau das Gegenteil. Ich wohne auf einem hübschen Bauernhof, draussen auf dem Land am Waldrand. Dort ist die Luft immer frisch, es gibt viele Wiesen und alles ist saftig grün. Ich finde Luca ist von seinem Leben her sehr arm. Denn neben dem düsteren Stadtleben streiten sich seine Eltern sehr häufig. Daher lade ich ihn oft ein, zum Ausgleich zu mir zu kommen. Ich denke, er mag es bei uns auf dem Bauernhof, denn er blüht jeweils richtig auf und wirkt ganz anders – fröhlich. Ich war noch nie bei ihm zu Hause. Das wäre schwierig, meint er jeweils ausweichend.

Ich zog mich an, so schnell ich konnte, rannte nach unten und stopfte mir ein Brot mit Marmelade in den Mund, während ich die Schuhe anzog. Dann hetzte ich mit dem Fahrrad in die Schule, wo gerade der Gong läutete. Ich knallte mein Fahrrad in eine Ecke und rannte ins Schulhaus. Puh, Glück gehabt, gerade noch rechtzeitig – ich würde meine Pause mit Luca verbringen können. Ich setzte mich gerade auf meinen Platz, als die Anwesenheitskontrolle begann: «Jessica, Laura, Eveline, Livio, Luca…Luca – nicht hier…?» Vielleicht hatte er mal wieder eine Panne mit dem Auto und kam zu spät. Häufig erschienen Kinder bei uns an der «Grünbein-Schule» nicht rechtzeitig zum Unterricht, weil sie von weit her anreisten. Ich hatte Glück, weil wir so nah bei der Schule wohnten. «Sarah, Daniel….» Das ging so immer weiter und ich schreibe hier jetzt nicht alle Namen auf, das wäre zu langweilig.

Der Unterricht fing an, was mich ablenkte, jedenfalls für einen kleinen Moment. Mathe, mein Lieblingsfach! Doch es wurde nicht so toll, wie ich es mir gedacht hatte. Denn erstens stiess mir mein Sitznachbar Livio pausenlos seinen Ellbogen unter dem Tisch in den Bauch und zweitens musste ich die ganze Zeit über Luca nachdenken. Er war immer noch nicht aufgetaucht. Was war nur los? War er etwa krank? Der Pausengong riss mich aus meinen Gedanken und ich rannte nach draussen und ging zum Baum. Es ist Lucas und mein Baum, da spielen wir immer unser Rollenspiel. Ich kletterte nach oben und setzte mich auf die Plattform, die wir mal im Rahmen eines Schulprojektes hier oben angemacht hatten. Ich öffnete meine Znünibox und erblickte die frisch geerntete Mohrrübe, welche ich für Luca mitgebracht hatte. Ich ass nämlich fast nie etwas zum Znüni. Luca aber liebte das Gemüse von unserem Bauernhof und darum brachte ich ihm stets etwas mit. Ich beschloss, nach dem Unterricht zu ihm zu gehen.

Luca hatte mir einmal einen Stadtplan gegeben, auf dem er markierte, wo er wohnt, also musste ich einfach irgendwie zu diesem Punkt gelangen. Das versuchte ich nach der Schule auch, doch sobald ich in der Stadt war, merkte ich schnell, dass es hier ziemlich gefährlich war. Überall fuhren Autos herum, es gab grosse Kreuzungen und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Nichts erinnerte hier auch nur ein bisschen an den Bauernhof, auf dem ich lebte. Alles war grau zubetoniert und die Luft stinkig. Gemäss Plan musste ich dann irgendeine Strasse überqueren, doch ich wusste plötzlich nicht mehr, wie man sich hier verhalten sollte. Ich hatte alles vergessen, was der Polizist uns im Kindergarten und in der Schule beigebracht hatte. Verwirrt lief ich einfach über die Strasse. Das stellte sich sofort als dumme Idee heraus. Denn ein Auto musste eine Vollbremsung einlegen und ein anderes Auto knallte hinten hinein, und dann wieder eins diesem hinten hinein- und so ging das immer weiter, bis die ganze Kreuzung ein einziger Unfall war. Ich ging schneller, zog meine Kapuze über, und machte mich aus dem Staub. Ich irrte umher, bis ich plötzlich eine blaue Spitze sah. Das musste das Dach des Hauses sein, in dem Luca wohnte. Ich beschleunigte meine Schritte, bis ich schliesslich vor Lucas Haus stand. Ich ging hinein und lief durch das düstere Treppenhaus. Luca war so arm, er musste ohne die kühle frische Waldluft leben. Hier war es so grausig stickig. Nachdem ich an die Wohnungstüre geklopft hatte, öffnete eine Frau mit wütendem Gesicht «Wer bist du?», fauchte sie. «Ich bin’s, Emil», antwortete ich. «Ach so, komm rein», murrte die Frau.

Ich fand Luca weinend auf seinem Bett sitzend vor. «Was ist denn los?», fragte ich ihn. «Ich…, ich will`s dir nicht sagen», weinte er. «Ich sag`s auch niemandem. Versprochen», sagte ich. «E… Ehrenwort?», fragte Luca. «Na klar, wir sind doch Freunde! Wir können einander alles sagen», versprach ich ihm. Nun schluchzte Luca noch lauter. «M… meine E… Eltern wo… wollen sich t…tr…enn…en und mein Vater z…zieht mit mir weg.» Das letzte Wort kam nicht mehr richtig aus ihm heraus, denn nun weinte er noch heftiger. Ich strich ihm über den Rücken, schaffte es aber einfach nicht, ihn zu beruhigen. Wieso wusste Luca das alles erst jetzt? Oder wollte er es mir vorher nur noch nicht sagen? Und wieso wollten sich seine Eltern überhaupt trennen? Luca wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. «Meine Mutter bleibt hier. Ich kann jedes zweite Wochenende bei ihr verbringen… Und die Ferien auch.» Ich atmete auf. «Zum Glück!», sagte ich. Trotzdem war ich traurig. Was sollte ich ohne Luca in der Pause machen? Ich öffnete meinen Rucksack und nahm die Möhre heraus. «Hier, die kannst du haben», sagte ich zu Luca. Er nahm sie und ass sie schweigend. „Ich werde dich vermissen“, sagte ich. Traurig sah Luca mich an. «Ich dich auch.» Wir schwiegen wieder. Nach einer Weile meinte ich: «Stell dir vor, du würdest nach Australien ziehen! Aber eine andere Stadt, ein paar Stunden entfernt, so etwas hält unsere Freundschaft doch aus, oder?» – «Ja», sagte Luca. «Ja, so etwas ist für eine richtige Freundschaft nur eine kleine, fünf Zentimeter tiefe Grube. Wir werden immer Freunde bleiben.»