Im Norden von Island an der Küste in einem kleinen Dorf namens Húsavík:   

 

Brinja

Es ist so ungerecht! Seit meine Stiefschwester Fjola mit ihrem Dad Ari zu mir und meiner Mutter in unser kleines Haus am Rand vom Dorf gezogen war, gab es immer nur Streit. Es stimmte, dass meine Mutter Aska früher nie wirklich Zeit für mich hatte, aber dann konnte ich immer zu meiner Freundin Elin gehen. Jetzt blieb ich über Mittag immer zuhause und stritt mich mit Fjola. Warum musste ausgerechnet Fjola so anders sein als ich? Nie waren wir uns einig.

 

Fjola

Warum haben sich Dad und Aska nur kennengelernt? Vor einem halben Jahr war noch alles gut und es gab noch keine Brinja auf dieser Welt. Ich und mein Dad hatten am anderen Ende von Island in einer gemütlichen Wohnung in Reykjavík gelebt. Dann kam Dad eines Abends ganz glücklich von seiner Arbeit nachhause. Ich wusste nicht was los war, aber als ich dann am nächsten Morgen aufgewacht war und ins Wohnzimmer schlurfte, sah ich dort Umzugskisten aufeinandergestapelt und meinen Dad, der verzweifelt versuchte, noch mehr Sachen in die Kisten zu stopfen.

Als ich schliesslich erfuhr, dass wir umziehen würden, war ich anfangs ganz begeistert, aber als wir dann ein paar Tage hier waren, hatte sich meine Meinung geändert. In diesem Dorf ist immer alles langweilig und komplett anders als in meinem alten Zuhause. Mein Zimmer ist viel kleiner und nie hört man abends, wenn man das Fenster öffnet, das Geräusch von Autos oder Leuten, die spät unterwegs sind. Hier hört man nur die Wellen an die Klippen schlagen und vereinzelt Vögel kreischen.

Am nächsten Nachmittag können Brinja und Elin endlich wieder einmal ihr Lieblingsspiel spielen. In Elins Zimmer sitzen sie am Boden auf dem Teppich und spielten. Doch Brinja ist mit ihren Gedanken ganz wo anders. Sie macht immer wieder die gleichen Fehler, als Elin sie fragt: «Was ist mit dir los Brinja?»

 

Brinja

Da bricht mein ganzer Ärger aus mir raus: «Ach Elin! Warum kann Fjola nicht wenigstens einmal ihre Klappe halten und mir nicht nach allem was ich sage, entgegnen ‚und‘…?» – «Hör doch auf Brinja, so schlimm wie du sie beschreibst kann Fjola doch kaum sein», unterbricht mich Elin. «Gib ihr doch mal eine Chance! Vielleicht werdet ihr dann sogar mal Freundinnen. Auch wenn ihr nicht die gleichen Dinge mögt und komplett verschieden seid, könnt ihr euch trotzdem mögen.»

 

Fjola

Jetzt haut Brinja schon wieder ab zu ihrer Freundin und lästert über mich! Nach fast jedem Streit zwischen uns rennt sie zu Elin und beschwert sich über mich! Ich habe ihr doch nur klar machen wollen, dass sie nicht so viel Platz für ihre Kleider brauchen sollte. Wenn sie dann immer ausrastet, kann ich auch nichts dafür, oder? Es ist Brinjas Schuld, dass sie von Natur aus einfach so zickig ist.

«Fjolaaaaa, du bist dran mit Kompost leeren!», ruft es von unten. Ach, Brinja ist also schon zurück, wenn sie schon wieder so am Rumschreien ist. «Ich komme ja schon! Aber vor allem musst du mir gar nichts sagen, ich kann meine Pflichten selbst einteilen.»

 

Brinja

«Ich wollte ja nur sagen, dass es vor dem Haus sehr anfängt zu stinken und jeden normalen Menschen von hier vertreibt!» Jetzt ist sie still, vielleicht habe ich es ihr gezeigt, dass sie auf mich hören sollte, anstatt mir Befehle zu erteilen.

«Sei du doch einfach mal still, wenn du nichts Besseres zu sagen hast! Ich will meine Ruhe haben und bei mir stinkt es ja nicht, daher ist es nicht mein Problem.» Leider zu früh gefreut. «Du denkst immer nur an dich, nie sorgst du dich um andere, du bist egoistisch und einfach eine dumme Kuh!», rufe ich nach oben. Okay, das war gerade ein bisschen heftig. Vielleicht hätte ich sie nicht so fest beleidigen sollen, aber in meiner Wut auf sie vergesse ich alles und lasse meine Wut einfach raus. Einmal sogar an Elin. Sie war bei einem Streit dabei, danach war Fjola davongerannt, ich hatte es nicht gemerkt und im Zimmer rumgeschrien. Ich dachte Elin wäre Fjola und habe sie an den Haaren gerissen.

Oh, schon so spät! Aska kommt bald nachhause und ich habe noch nicht einmal die Zähne geputzt.

Jetzt liege ich im Bett und höre noch den rauschenden Wellen zu. Das Schreien von einem Kind aus dem Nachbarshaus ist das Letzte, was ich höre, dann schlafe ich ein.

 

Fjola

Fahles Morgenlicht dringt durch die Vorhänge in mein Zimmer ein. Ich tappe zu meinem Fenster und ziehe die Vorhänge auf. Die Sonne scheint grell in mein Gesicht. Heute wird es heiss werden, wenn es jetzt schon so warm ist. Langsam laufe ich die Treppe runter ins Wohnzimmer. Die meisten Stufen knarzen. Man müsste dieses Haus schon längstens renovieren, aber Aska findet, dass man in diesem Haus noch ein paar Jahre wohnen kann. In meinem alten Zuhause gab es nie Probleme mit der Wohnung, alles war perfekt. Hier ist alles anders und mit Brinja habe ich seit Anfang an ein Problem. Zwei Tage nach meinem Umzug fing sie mich an zu nerven und unerträglich zu werden. Sie hat mir nie eine Chance gelassen, mich hier gut einzuleben oder um sie besser kennenzulernen. Inzwischen bin ich vor der Küche stehen geblieben. In dem Moment, in dem ich durch die Küchentür gehe, fällt mein Blick auf den Kalender. 14. Juli steht dort, rot angestrichen. Darunter ist etwas mit Bleistift hingekritzelt. Ich gehe näher heran und entziffere die Buchstaben. «Brinja» steht dort. Da fällt es mir wieder ein: Heute ist Brinjas Geburtstag! Die Mühe um ein Geschenk für sie habe ich mir erspart. Aber bei uns gibt es die Regel, dass wenn jemand Geburtstag hat, kann diese Person einen Tag lang alles Mögliche bestimmen. Vor drei Monaten hatte ich Geburtstag. Brinja hat es schlau gemacht und ist einfach zu Elin gegangen. Ich habe noch immer Sommerferien und habe daher noch keine Freundinnen von der Schule und in diesem Dorf hat es ausser uns und Elin keine Kinder in unserm Alter.

Das heisst für mich, dass ich einen ganzen Tag lang von Brinja herumkommandiert werde.

 

Brinja

 Juhu! Heute ist mein Geburtstag. Ich bekomme viele Geschenke, aber das Beste ist, dass ich Fjola den ganzen Tag Befehle erteilen kann. Ich renne die Treppe runter, da merke ich, dass ich noch im Bett bleiben muss bis die anderen mit dem Kuchen in mein Zimmer kommen und mich wecken. Schnell husche ich wieder in mein Zimmer und hüpfe in mein Bett. Einschlafen kann ich jetzt sicher nicht mehr, denn dafür bin ich zu aufgeregt. Deshalb ziehe ich die Schublade neben meinem Bett auf und hole meine Airpods raus. Auf meinem Handy stelle ich meine Lieblings-Playlist ein und schaue noch halb verschlafen aus dem Fenster. Draussen läuft gerade Ari mit einer Papiertüte in der Hand ins Haus. Wahrscheinlich hatte er gerade frische Croissants vom Bäcker am Ende der Strasse geholt, geht es mir durch den Kopf.

«Happy Birthday to you! Happy Birthday to you!» Die Stimmen von Aska und Ari reissen mich aus dem Schlaf. Dann bin ich wohl doch nochmals eingeschlafen. Müde setze ich mich in meinem Bett auf. Wie ein Blitz fährt die Erkenntnis, dass ich heute Geburtstag habe, durch meinen Körper. Wenige Augenblicke später stehe ich vor meinem Bett und puste die Kerzen aus. Der Rauch schlägt mir ins Gesicht und ich atme vergnügt den Geruch von Kuchen und Kerzen ein.

 

Fjola

Jetzt ist Brinja doch noch aufgewacht. Ich dachte schon, sie würde den ganzen Tag verschlafen. Draussen steht die Sonne schon hoch am Himmel und auf den Strassen ist schon Betrieb. Die Nachbarskinder von nebenan haben ein Slalom aufgestellt und versuchen, mit ihren Skateboards die Strasse hinunterzukurven. Die Tür schwingt auf und Brinja stürmt herein. «Wach auf du Schlafmütze, in der Küche wartet ein Berg dreckiges Geschirr auf dich. Du musst es nur abwaschen, abtrocknen und versorgen. Viel Spass!», ruft Brinja und macht schon wieder kehrt, stürzt die Treppe runter und redet aufgeregt mit Aska. Na, vielen Dank! Brummle ich in mich herein. Und das mit der Schlafmütze stimmt also mal komplett nicht. Ich wache immer viel früher als Brinja auf. Also wenigstens ein paar wenige Minuten.

In der Küche war wirklich ein grosser Berg Geschirr gestapelt. Jetzt bin ich bereits am Einräumen. Eine Geschirrspülmaschine gibt es in diesem Haus keine, also auf jeden Fall keine funktionierende. Brinja und ich streiten uns immer wieder, wer den Abwasch machen muss. In der Stadt hatten ich und Dad immer zusammen nach jedem Essen das Geschirr in den Geschirrspüler getan. Mit Musik ging das immer sehr schnell, aber hier gibt es kein Radio und im Gegensatz zu Brinja habe ich immer noch kein Handy.

 

Brinja

Es ist alles perfekt! Fjola regt sich auf und ich habe Spass. Zum Frühstück gab es warme Croissants mit Himbeer-Marmelade und heisse Schokolade. Die Geschenke gibt es immer am Abend und ein kleines beim Frühstück. So ist es bei uns die Regel. Ich habe einen kleinen Notizblock mit einem coolen Stift bekommen.
Noch vor wenigen Minuten stand ich vor der Küchentür und lauschte dem Geschepper von dem Geschirr. Denn ich finde es immer lustig, wenn Fjola beim Abwaschen vor sich her motzt. Jetzt ist sie leider fertig. Aber bald gibt es Mittagessen und Fjola kann wieder abwaschen.

Jetzt liege ich im Bett. Es ist zwar noch nicht dunkel, aber ich finde es gibt nichts Schöneres, als sich am Abend in die Bettdecke zu kuscheln. Die Geschenke habe ich bekommen und Fjola hat neidisch zugesehen. Den ganzen Tag lang musste sie Aufgaben erledigen, auf die ich keinen Bock hatte. Während ich schon schlafen kann, muss Fjola noch alle Eimer leeren und die Wäsche aufhängen.

 

Fjola

Was erlaubt sich diese dumme Kuh! Den ganzen Tag lang musste ich irgendwelche Aufgaben für sie erledigen. Brinja führte sich wie eine Königin auf. Dabei ist ein Geburtstag nicht das Wichtigste auf der Welt. Oder? Nach diesem Ärger brauche ich frische Luft, um mich zu beruhigen. Hier draussen auf der Dachterrasse geht ein kühler Wind. Meine blonden Haare wirbeln in meinem Gesicht umher. Mein Blick schweift über das Dorf bis zum Hafen. Es legt gerade ein Motorboot an. Beim genaueren Hinschauen erkenne ich die Person, die drinsitzt. Es ist Elins Vater, der Fischverkäufer im Dorf, der gerade mit frischen Fischen vom Meer zurückkehrt.

Plötzlich spüre ich den Drang mit unserem kleinen Ruderboot Mathilda aufs Meer rauszufahren, um endlich wieder einmal allein zu sein, ohne Brinja. Also gehe ich langsam wieder ins Haus. Vorsichtshalber stopfe ich meine Bettdecke mit Kissen aus und stecke eine Krone in meine Hosentasche. Dann schleiche ich leise die Treppe runter. Gerade als ich die Haustür aufmache, bläst mir ein Windstoss ins Gesicht. Dabei kommt ein Blatt angeweht. Ich schrecke zurück und stosse mit meinem Arm den Schirmständer in der Garderobe um. Es scheppert laut. Angespannt halte ich die Luft an. Doch anscheinend hat es niemand gehört. Nochmals Glück gehabt! Diesmal etwas vorsichtiger setze ich meinen Weg durch unseren Vorgarten fort. Das Gartentor quietscht beim Aufmachen leise, aber zum Glück sind alle Fenster geschlossen.

Ich renne den Weg, an dem ich wohne, entlang und schlittere am Ende der Strasse um die Ecke. Beinahe stosse ich mit dem Fischverkäufer zusammen, den ich vorher am Hafen sah. Ich renne mit einem kurzen «Sorry!» weiter. «Nicht so eilig junge Dame!», ruft er mir hinterher, doch ich bin schon hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Etwas langsamer laufe ich die Küstenstrasse entlang, bis ich vor der Bäckerei zum Stehen komme. Ich krame in meiner Hosentasche, irgendwo habe ich doch noch die Krone. Ah, hier! Ich verschnaufe noch kurz, dann gehe ich in den Laden hinein.

Mit meiner Krone bezahle ich die zwei Brötchen, die ich mir ausgesucht habe. Langsam schlendere ich am Hafen entlang. Meine Füsse tragen mich zum Leuchtturm. Ich will schon wieder umkehren, um endlich loszurudern, da kommt mir der Gedanke, dass es mäusehirnig wäre, jetzt wo es schon eindunkelt noch aufs Meer rauszufahren. Und ich weiss noch nicht mal, wo ich hinfahren will. Also beschliesse ich die Nacht im Leuchtturm zu verbringen, denn auf Brinja habe ich im Moment definitiv keinen Bock.

Ich stapfe die knarzenden Stufen im Leuchtturm hoch. Schon seit vielen Jahren ist er ausser Betrieb. Im Kontrollraum errichte ich mit meiner Jacke ein kleines Schlaflager. Draussen fängt es an zu regnen.

Während der Regen auf das Dach des Leuchtturms prasselt, schlafe ich langsam ein.

 

Brinja

Leise tröpfelt der Regen gegen mein Fenster. Ich habe heute lange geschlafen, es wundert mich, dass man von Fjola noch nichts hört. Langsam steige ich die Treppe runter und lasse mich auf den Sessel im Wohnzimmer plumpsen. Das mache ich oft, wenn ich über etwas nachdenken muss, oder wie in diesem Fall; am Morgen noch müde bin und nicht in meinem Zimmer bis zum Frühstück warten will.

Es ist ungewöhnlich, dass Fjola nicht zum Frühstück kommt. Normalerweise sitzt sie als erste am Tisch und beschwert sich darüber, dass es nach ihrer Meinung nicht schnell genug vorangeht. Wahrscheinlich hat sie einfach verschlafen, rede ich mir ein. Doch zur Sicherheit gehe ich nachschauen. Ich reisse die Tür auf und rufe: «Fjolaaa, aufwachen!», und laufe zu ihrem Bett. Es bewegt sich immer noch nichts, darum rüttle ich an ihr. Da stelle ich mit Schrecken fest, dass ihr Bett leer ist. Sie hat Kissen unter die Bettdecke gesteckt, damit es so aussieht, als würde sie schlafen. Ich renne in die Küche und schreie: «Fjola ist weg!»

 

Fjola

Der Regen hat sich gelegt und der Sonne Platz gemacht. Die Nacht war unbequem und unheimlich. Alles hat komische Geräusche gemacht und der Wind und der Regen hatten es nur noch grusliger gemacht. Jetzt laufe ich zum Anlegeplatz von Mathilda. Dabei verschlinge ich hungrig mein zweites Brötchen. Aufgeregt binde ich das Tau vom Pfosten weg, denn ich bin erst einmal mit einem Ruderboot gefahren und das auch nur mit Begleitung. «Es wird schon gut gehen», mache ich mir Mut.

Ich bin jetzt schon ein ganzes Stück vom Ufer entfernt. Am Anfang hatte ich Mühe mit den Rudern, aber schon bald hatte ich den Dreh raus. Beim sanften Plätschern der Wellen entspanne ich mich langsam. Die Sonnenstrahlen wärmen meinen Rücken und das regelmässige Geräusch der Ruder macht mich schläfrig. Weit hinten am Horizont sieht man noch die Umrisse von Häusern, darüber ziehen Sturmwolken auf. Etwas besorgt rudere ich weiter, doch nach einer Weile habe ich meine Sorgen vergessen.

Erst als sich der ganze Himmel grau färbt und ein erster Regentropfen fällt, fallen mir meine Gedanken zu den Sturmwolken am Horizont wieder ein. Besorgt rudere ich schneller, und halte nach einer Insel Ausschau. Dabei fängt es heftiger an zu regnen und ein Gewitter zieht auf. Beim ersten Donnergrollen zucke ich zusammen und schreie verzweifelt nach Hilfe.

 

Brinja

Dad und Aska haben sich keine Sorgen um Fjola gemacht. Sie haben nur gesagt, dass sie bestimmt irgendwo in den Strassen herumläuft und dann wieder klatschnass nachhause kommt. Ich würde das gerne auch so sehen, doch ich mache mir irgendwie Sorgen um meine Stiefschwester.

Immer noch besorgt über das Verschwinden von Fjola mache ich mich auf den Weg zu Elin. Ich ziehe mir die Kapuze meiner Regenjacke tiefer ins Gesicht. Der Regen hat sich in ein richtiges Gewitter verwandelt.

Im Wohnzimmer sitzen Elin und ich auf dem Sofa und ich erzähle ihr meine Sorgen über Fjola. Elins Vater sitzt am Küchentisch und hört uns halb zu. Plötzlich steht er auf und kommt auf uns zu. Er setzt sich neben mich und fragt: «Hat deine Schwester zufälligerweise blonde Haare?» Ich stimme der Frage verwirrt zu. Bevor ich ihn fragen kann, wieso er das weiss, redet er weiter: «Ich bin mit ihr zusammengestossen, als sie auf dem Weg zum Hafen war. Sie hatte es ziemlich eilig.» Erschrocken lehne ich mich zurück und stammle: «Sie wird doch wohl nicht bei diesem Wetter auf dem Meer sein! Wir müssen sie suchen!» – «Jetzt sei doch mal vernünftig. Deine Schwester hat sich dabei doch sicher etwas überlegt. Und bei diesem Wetter geht hier niemand aus dem Haus!», ertönt die tiefe Stimme von Elins Mutter. Zuvor war sie am Fenster putzen und hatte anscheinend auch zugehört. «Aber was ist, wenn ein Sturm über dem Meer aufzieht oder sie ein Ruder verliert oder ihr sonst was zustösst?», sage ich verzweifelt. Da mischt sich Elin ein: «Schau doch mal Brinja, es ist ja nicht mal sicher, dass Fjola auf dem Wasser ist und du machst dir nur unnötig Sorgen. Fjola ist schlau genug, bei diesem Wetter nicht rauszugehen.» Eine Weile schweigen alle, dann stehe ich langsam auf und sage leise: «Ich gehe.»

Kurz vor der Tür bleibe ich noch einmal stehen und blicke zurück. Elin ruft noch: «Bis bald!» Dann gehe ich durch die Tür in den strömenden Regen. Bedrückt laufe ich nachhause, hänge meine Regenjacke in den Schrank – mir ist es im Moment ganz egal, ob sie alles volltropft oder nicht – und lasse mich in meinem Zimmer auf das Bett plumpsen. Ich fühle mich irgendwie schuldig. Normalerweise würde ich jetzt über Fjola schimpfen. Doch weil ich sie so beschimpft habe und sie an meinem Geburtstag unfair behandelt habe, kommen in mir Schuldgefühle auf.

Es ist Abend geworden. Seit ich bei Elin war, sind bereits drei Stunden verstrichen. Die ganze Zeit, lag ich in meinem Bett, hörte Musik und machte mir Gedanken. Endlich! Ich habe einen Entschluss gefasst! Energisch stehe ich auf und laufe in meinem Zimmer umher. Ich werde, sobald das Wetter umschlägt, an den Hafen gehen. Mit unserem Ruderboot Mathilda werde ich Fjola suchen gehen!

 

Fjola

Da! Der Blitz hat den Himmel gerade genug erhellt, um einen Punkt in der Ferne auszumachen. Mit aller Kraft rudere ich gegen den Wind. Immer näher und näher komme ich dem Flecken Land, den ich kurz gesehen habe. Mittlerweile erkenne ich, dass es eine kleine Insel nahe am Festland sein muss. Brinja erzählt immer davon, wie sie mit Elin auf einer Insel eine kleine Hütte gebaut hat. Das muss so ein ähnliches Exemplar davon sein. Plötzlich schwappt ein Schwall Wasser über den Bootsrand und füllt den Boden. Entsetzt stelle ich fest, dass ich zusammen mit dem Boot immer mehr unter Wasser sinke. Dabei bin ich noch ein ganzes Stück von der Insel entfernt. Die Wellen werden immer höher und das kleine Boot, in dem ich sitze, wird wie ein Spielzeug hin- und hergeworfen. Voller Panik rudere ich noch schneller, dabei kommt eine riesige Welle in schnellem Tempo auf mich zu. Gerade als sie den höchsten Punkt erreicht hat, bricht sie über mir zusammen und zieht mich mit dem Boot zusammen unter Wasser. Prustend tauche ich einen Augenblick später wieder auf und blicke verzweifelt über die einzelnen Stücke des Bootes. Ich klammere mich an einem losen Brett fest und strample kräftig mit den Beinen. Voller Angst schliesse ich die Augen. Die Bilder von Aska, Dad und Brinja steigen in meinen Kopf. Etwas entschlossener mache ich die Augen auf, blinzle ein paar Mal, richte meinen Blick auf die Insel und schwimme weiter.

Mit letzter Kraft ziehe ich mich aus dem Wasser. Endlich, in Sicherheit! Eine Weile stehe ich noch da und schaue über das Wasser. Letzte Reste von Mathilda treiben noch davon. Dann kehre ich um und mache mich auf den Weg, um einen trockenen Platz zu finden. Eine Hügelkette zieht sich quer über die Insel. Ich bin zu müde, um auch noch auf der anderen Seite nach einem Unterschlupf zu suchen. Deshalb liege ich unter einen Baum. Darunter ist es schön trocken und windgeschützt. Denn um den Baum herum wächst ein dichtes Brombeerdickicht. Erschöpft falle ich in einen unruhigen Schlaf.

 

Brinja

Erleichterung strömt in meinen Körper, als ich merke, dass es heute einen regenfreien Tag geben würde. Meine Eltern schlafen noch, also nehme ich einen Notizzettel und schreibe eine Botschaft drauf:

 

Liebe Aska, Lieber Ari

Ich gehe auf die Suche nach Fjola. Sie ist jetzt schon seit zwei Tagen fort. Ich mache mir Sorgen um sie. Vor wenigen Monaten war sie ja schon mal abgehauen, aber nach einem Tag war sie wieder zurück. Vielleicht ist ihr diesmal etwas zugestossen. Ich hoffe, dass ihr meinen Beschluss versteht, auch wenn ihr anderer Meinung seid.

Bis bald Brinja

 

Ich falte den Zettel und lege ihn auf den Küchentisch. Dann werden sie ihn spätestens beim Frühstück finden. Schnell packe ich Proviant in meinen Rucksack und eine warme Jacke stopfe ich auch noch rein. Jetzt bin ich startklar. Leise stosse ich die Haustür auf und gehe den kurzen Kiesweg bis zum Gartentor entlang. Auf dem Gehsteig fange ich an zu rennen. Ohne Pause laufe ich durch das ganze Dorf, bis ich kurz vor dem Hafen an einem Brunnen halt mache, um zu trinken. Denn das Wasser in der Wasserflasche möchte ich gerne noch aufsparen. Das letzte Mal, als ich mit Mathilda rausfuhr, war, als ich mit Elin auf einer Insel nahe der Küste eine Hütte gebaut hatte. Der Anlegeplatz von Mathilda ist am gegenüberliegenden Ende des Hafens.

Ich muss vorsichtig laufen, denn die Holzbretter des Stegs sind vom Regen noch ganz rutschig. Ein Mann kommt mir entgegen, ich kann gerade noch knapp ausweichen. Dabei falle ich über meinen Schnürsenkel. Während ich mich aufrapple, streife ich mit meinem Blick den Platz, an dem Mathilda liegen sollte. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass Fjola mit Mathilda rausgefahren sein musste. Schimpfend über mich selbst, weil ich nie daran gedacht hatte, dass Fjola auch ein Boot gebraucht haben musste, um loszufahren, mache ich mich auf den Weg zu Elins Boot. Ich konnte es schon öfters ausleihen, auch ohne zu fragen. Da steht es ja! Meereskönigin, die Farbe der Buchstaben ist schon halb abgeblättert.

Hier draussen auf dem Meer ist alles ruhig. Es ist schön, endlich wieder einmal am Rudern zu sein. Erst jetzt merke ich, dass ich keinen Plan habe, wo ich zuerst hinfahren soll. Eine wage Erinnerung erscheint in meinem Kopf. Wir sassen zu viert am Tisch, es gab Abendessen und Ari erzählte von einer Papageientaucherinsel. Fjola hat dabei interessiert zugehört. Ich werde circa eineinhalb Stunden dorthin brauchen, aber es wird sich lohnen.

Die Insel kommt schon in Sicht. Es war anstrengend, so lange und ohne Pause zu rudern. Ich drossle das Tempo ein wenig, bleibe aber trotzdem noch zügig am Rudern. Das Tau der Meereskönigin binde ich an einem Felsen fest. Mein Mut sinkt ein wenig, denn ich sehe kein Boot und auf der anderen Seite der Insel ist nur eine steile Klippe.

Trotzdem steige ich den Hang hinauf. Jetzt stehe ich auf dem höchsten Punkt der Insel und blicke rund um mich. Doch nirgendswo sieht es danach aus, dass Fjola hier ist oder gewesen war.
Zurück auf dem Boot halte ich missmutig die Hände ins kalte Wasser. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, denn das Wasser ist eisig. Plötzlich sehe ich etwas hinter der nächsten Welle verschwinden. Aufgeregt rudere ich darauf zu. Es ist ein einfaches Holzbrett. Enttäuscht rudere ich weiter, doch als ich mich noch mal umdrehe, hat sich das Brett auf die andere Seite gewendet und ich kann das Wort, das darauf steht, entziffern: Mathilda! Die Buchstaben sind nicht mehr gut lesbar. Aufgeregt und ängstlich fahre ich weiter. Bald kommen weitere Bretter in Sicht. Es werden immer mehr. Ich halte inne: Wenn die Mathilda hier in Einzelteilen herumschwimmt, dann hat Fjola ja kein Boot mehr und ist vielleicht in grosser Gefahr. Voller Angst fahre ich weiter und probiere, die Gedanken zu verdrängen, was mich wohl am Ende dieser Bretterspur erwartet. Auf einmal hören die Bretter auf. Frustriert paddle ich weiter, in der Hoffnung noch weitere Bretter zu finden.

Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich schaue mich um und erblicke vor mir die Insel, auf der ich und Elin eine Hütte gebaut hatten. Entschlossen rudere ich darauf zu und beschliesse, die Nacht hier zu verbringen.

 

Fjola

Am Abend:

Es war eine bequemere Nacht als die im Leuchtturm, aber noch lange nicht so gemütlich wie zuhause in meinem Bett. Unter dem Baum ist alles mit Moos ausgepolstert, dadurch ist es schön weich gewesen. Am Tag war ich zu müde, um die ganze Insel zu erkunden. Meine Kraft hatte gerade dafür gereicht, meinen Schlafplatz auszupolstern und mir Sorgen darüber zu machen, wann und wie ich nachhause komme. Jetzt ist es bereits wieder dunkel und ich müsste schlafen, damit ich morgen genug fit bin, um die Insel zu erkunden. Doch ich habe seit über einem Tag nichts mehr zu essen gehabt. In einer Senke nahe meinem Lager fliesst ein kleiner Bach mit Süsswasser. Trinken kann ich daher problemlos. Der Hunger wird aber immer unerträglicher und ich kann daher nicht mehr richtig schlafen. Morgen muss ich unbedingt einen Weg zum Essen finden, sonst habe ich ein echtes Problem.Es ist ein schöner und sonniger Morgen. Ich denke, dass ich heute fit genug bin, um die Insel zu erkundigen. Ich trinke noch kurz und ziehe meinen Pullover aus.

Die Insel ist viel grösser, als sie auf den ersten Blick wirkt. Die Hügel haben erst gerade angefangen. Am Anfang sind die nur eine leichte Anhebung, doch mit der Zeit werden es richtig steile Hänge. Das weiche Gras wiegt sich im Wind hin und her. Ab und zu wachsen einige Ginsterbüsche und selten sieht man einen Brombeerstrauch. Auf den Hügeln angekommen, bietet sich mir ein wunderschöner Anblick. Wenn man dem Bach, aus dem ich trank, ein Stück weiter folgt, wächst am Ufer Schilf und der Bach weitet sich zu einem kleinen Fluss. In der Mitte spült das Wasser Kieselsteine von einer kleinen Kiesinsel weg. Auf der bis jetzt unbekannten Seite der Insel liegt ein Wald. Es gibt einen kleinen Sandstrand, den man von hier aus sehen kann. Etwas weiter im Wald drin, ist eine kleine Lichtung mit einem Felsen in der Mitte. Da entdecke ich einen dunklen Flecken hinter dem Felsen in Richtung Wald. Ich überlege, ob ich hingehen sollte oder nicht. Meine Neugier und mein Hunger treiben mich in den Wald. Der Boden ist jetzt mit Moos und Kiefernadeln übersäht. Es gibt einen kleinen Trampelpfad, der hoffentlich zur Lichtung führt. Vor mir lichtet sich der dunkle Kiefernwald und ich trete auf die Lichtung. Vorsichtig schleiche ich mich hinter den Felsen und spähe um die Ecke. Erstaunt gehe ich wenige Schritte weiter vor und verstecke mich in sicherem Abstand hinter einem grossen Stein. Vor mir steht eine kleine Hütte. Sie sieht nicht sonderlich stabil aus, muss aber trotzdem seit einigen Jahren hier stehen. Ich will gerade etwas näher an die Hütte rangehen, da tritt jemand mit eingezogenem Kopf aus der Hütte. Erschrocken weiche ich zurück und verschwinde wieder hinter dem Stein. Ich sehe genauer hin. Da stockt mir der Atem. Diese Person mit den braunen Locken kenne ich nur allzu gut.

 

Brinja

Die frische Morgenluft weht durch die Ritzen der Hütte. Mit eingezogenem Kopf trete ich ins Freie und halte mein Gesicht in die Sonne. Ich meine etwas hinter mir zu hören, doch als ich mich umdrehe, ist nichts Ungewöhnliches zu sehen. Ich will noch den Mittag abwarten, dann werde ich mit dem Boot weiter nach Fjola suchen. «Was machst du hier!», ruft eine wütende Stimme hinter mir. Ich erstarre, dann drehe ich mich ganz langsam um. Ich schaue in die blitzenden Augen von Fjola. Erleichtert mache ich einen Schritt auf sie zu, doch Fjola weicht zurück. Da fällt mir ein, dass Fjola noch immer wütend auf mich sein wird. «Es tut mir leid, was ich gemacht habe.» Versuche ich sie freundlich zu stimmen. «Ich weiss, dass es dir sowieso nicht leidtut!», kommt die barsche Antwort zurück. Mit einer freundlichen Stimme erwidere ich ihr: «Doch tut es! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und ich bin dich suchen gegangen.» Ich merke, dass ich sie noch nicht richtig überzeugt habe. «Wer’s glaubt!», motzt sie mich an. Verzweifelt fahre ich fort: «So glaub mir doch!» Etwas verunsichert erwidert sie: «Ganz sicher nicht!» Doch dann: «Ach, was soll’s! Eigentlich bin ich sogar froh, dass du hier bist. Noch besser wäre es allerdings, wenn du etwas zu essen dabeihättest.» Glücklich trete ich näher und umarme sie. Das erste Mal, seit ich sie kenne, frage ich mich, warum wir uns die ganze Zeit streiten. Kurz darauf komme ich mit zwei Brötchen wieder aus der Hütte raus. Das eine gebe ich Fjola, das zweite stecke ich mir selbst in den Mund.

Schnell packe ich meine Sachen zusammen und nehme den Rucksack auf die Schultern. Zusammen laufen wir den gleichen Weg, den Fjola schon gekommen ist, zurück. Währenddessen erzählt Fjola ihre Geschichte, wie sie auf diese Insel gekommen ist.

Beim Baum angelangt, nimmt Fjola ihren Pullover mit und zeigt mir den besten Weg, wie man zum Meer kommt. Wir erzählen uns gegenseitig Geschichten und Witze, während wir am Rand der Insel zum Boot laufen. Ein Glücksgefühl strömt durch meinen Körper. Es fühlt sich wunderbar an, zusammen mit Fjola Zeit ohne Streiten zu verbringen.

 

Fjola

Zusammen mit Brinja zu rudern, macht echt viel Spass. Wir hören beide den Wellen zu, als Brinja die Stille bricht und sagt: «Es ist eigentlich sogar gut, dass wir verschieden sind, so können wir viel voneinander lernen!» Ich schliesse glücklich die Augen und stelle mir vor, wie es zuhause sein wird, wenn ich mich mit Brinja besser vertrage. Plötzlich bin ich sehr froh darüber, dass ich hierhergezogen bin und das erste Mal verspüre ich Freude bei der Vorstellung mit meiner neuen Schwester zusammen zu sein.