Malou

Langsam schlurfe ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Es knarzt bei jedem meiner Schritte. Als ich oben in meinem Zimmer ankomme, lasse ich mich aufs Bett fallen und wickle mich in meine geblümte Kuscheldecke. Wieso müssen Jarina und ich so verschieden sein? Verspürt sie nicht auch die Lust, mal ein Abenteuer zu erleben? Und wieso bin ich so temperamentvoll? Immer haben wir Streit! Ist das bei allen Zwillingsschwestern so?

 

Jarina

Strich für Strich zeichne ich an meinem Elefanten weiter und überlege dabei, was Malou wohl vor mir verbirgt. Vorhin beim Mittagessen haben wir uns gestritten. Sie fragte mich, ob ich heute Nacht mit ihr zum Süd-Strand kommen würde. Sie müsse mir etwas zeigen. Ich antwortete, was für eine dumme Idee das sei. Bei Vollmond zum Strand gehen! Danach stritten wir noch eine ganze Weile. Bis sie schliesslich deprimiert die Treppe hochstieg.

 

Malou 

Das Leben auf einer kleinen Insel bei den Niederlanden ist todlangweilig. Jeder kennt jeden, alle Tage sind gleich und nie passiert etwas Spannendes. Ausser vielleicht, dass ein Kalb oder ein Lamm geboren wird. Da wir aber auf einem Bauernhof im Norden der Insel leben, kommt das auch öfters vor. Manchmal würde ich gerne in einer Grossstadt leben, zum Beispiel in New York. Alles voller Leute, niemand kennt dich und es gibt da sogar richtige Taschendiebe. Das ist im Gegensatz zu unserer kleinen Insel ein richtiges Abenteuer. Was ich wirklich nicht verstehen kann, ist, weshalb Gäste auf unsere Insel kommen und es hier spannend genug finden, um Ferien zu machen. Ehrfürchtig schaue ich aus dem Fenster und starre in die Dunkelheit.

 

Jarina

Nachdenklich liege ich auf meinem Bett und kaue auf meinen Fingernägeln herum. Draussen ist es stockdunkel. Malou will bei Vollmond zum Strand. Hat sie denn gar keine Angst, dass etwas passiert? Im Dunkeln! Soll ich sie vielleicht doch begleiten? Denn wenn sie alleine draussen ist, kann ihr niemand helfen, wenn etwas passiert. «Nein!», sage ich zu mir selbst, «du musst sie nicht begleiten.» Wenn sie sich das in den Kopf setzt, ist sie auch selbst verantwortlich, dass ihr nichts zustösst.

 

Malou

Leise schleiche ich in meinem Zimmer umher und packe die letzten Sachen in meinen roten Strandbeutel. Schon zum siebten Mal checke ich, ob ich auch wirklich alles eingepackt habe; Taschenmesser, Stirnlampe, Handy und meinen Libellenhaarklammer-Glücksbringer. Vorsichtig tappe ich nun die Treppe hinunter. Ohne Ton schiebe ich die Türen zu den Schlafzimmern auf und versichere mich, dass meine Eltern und Jarina auch wirklich schlafen. Dann drücke ich die Haustürfalle runter. In dem Moment zieht ein Windstoss vorbei und das Wellblechdach von unserem Gartenhäuschen gibt ein extrem lautes Scheppern von sich. «Hoffentlich hat das niemand im Haus gehört», denke ich, schliesse die Tür wieder und sprinte davon.

 

Jarina

Ein lautes Klappern lässt mich hochfahren. Verwirrt schlage ich die Augen auf. Ich sitze auf meinem Bett. Es ist stockdunkel. Plötzlich fällt es mir wieder ein: Malou wollte heute bei Vollmond zum Strand. Leise schleiche ich die Treppe hoch und drücke die Tür zu Malous Schlafzimmer auf. Das Bett ist leer! Noch ganz geschockt von meiner Entdeckung packe ich die wichtigsten Dinge in meine Umhängetasche. Kurz darauf stehe ich auf dem Trampelpfad in Richtung Süd-Strand. Voller Angst und Neugierde marschiere ich den Pfad entlang. Als ich am Ende ankomme, sehe ich Malou am Wasser stehen. Der Schein ihrer Stirnlampe fällt sachte aufs Wasser. Ich kauere mich hinter einen grossen Stein, der am Strand liegt, und beobachte sie.

 

Malou

Wagend mache ich zwei weitere Schritte ins kalte Wasser hinein. Und überlege mir ganz viele Vorteile, die es gäbe, wenn ich jetzt in New York wäre, als plötzlich eine grosse Welle mit einer wunderschönen Schaumkrone ans Ufer schlägt. Während sie sich wieder zurückzieht, drückt sie mir den Boden unter den Füssen weg. Ich falle in die Wellen und weg bin ich.

Vorsichtig blinzle ich ein paar Mal in die Sonne. Ich liege auf einem Liegestuhl eingewickelt in drei Decken. Um mich herum stehen Jarina und meine Eltern. «Hä?», frage ich langsam und ziemlich verwirrt. «Was ist passiert? Wo bin ich?» – «Du bist in Sicherheit», beruhigt mich Jarina. Erschöpft schäle ich mich aus den Decken, für die es eigentlich zu warm ist.

 

Jarina

«Was hast du getan, wieso bist du abgehauen?», frage ich besorgt. «Nun ja, ich wollte hinaus in die Welt», antwortet sie etwas beschämt. «Weisst du, ich mag Abenteuer», meint sie. «Das kann ich gut verstehen», antworte ich. Sie schaut mich ganz schön erstaunt an. «Was dachtest du denn! Ich fände es spannend auf dieser Insel?», frage ich. «Na ja, ich dachte wohl, dass du langweilig bist und keine Abenteuer magst», stösst sie verlegen hervor. Kopfschüttelnd setze ich mich ins feuchte Gras. Ich zupfe Gänseblümlein für Gänseblümlein aus der Wiese und stecke daraus ein Kränzchen. Malou setzt sich zu mir ins Gras. Lächelnd schaut sie mich an und ich lächle zurück.

 

Malou

Zum Glück ist Jarina mir gefolgt und konnte mich aus dem Wasser ziehen. Auch wenn meine Idee, zumindest aus Jarinas Sicht, ein bisschen zu abenteuerlich war, ist mein grösster Traum immer noch, in einer Grossstadt zu leben. Und wer weiss, vielleicht geht mein Traum irgendwann in Erfüllung. Denn man sollte nie aufhören zu träumen.