Schwende, 12. Oktober 1846

Lieber Beat

Es war schön, Dich im letzten Monat endlich mal wieder persönlich getroffen zu haben.
Zurzeit arbeite ich für Jakob Dörig als Säntisträger. Mit einer Gruppe von vier Mann, Heinrich, Eduard und Claus, steige ich jeden zweiten Tag 1700 Meter hoch auf den Säntis und bringe Materialien für den Bau der zweiten Schutzhütte hoch. Mein Lohn beträgt im Herbst 40 Rappen und im Winter 60 Rappen für eine Ladung. Bei unserem letzten Aufstieg auf den Berg war es morgens sehr neblig und kalt. Ich hatte keine Lust, auf den Säntis zu steigen, weil der Lohn für die ganze Anstrengung zu wenig ist. Trotzdem überwand ich mich und war um Punkt 5 Uhr bei den kleinen Stallungen der Kühe.

Wir stiegen vorsichtig los, kamen nach zwei Stunden auf der Meglisalp an und assen ein zweites Mal Frühstück. Gestärkt stiegen wir mit neuen Kräften aufwärts und kamen schliesslich um 12 Uhr mittags zitternd bei der weiter oben gelegenen Schutzhütte an. Es hatte angefangen zu schneien, so dass wir den Weg nicht mehr sehen konnten. Niedergeschlagen mussten wir den Aufstieg abbrechen und warteten in der Hütte den Schneefall ab. Nach einiger Zeit schliefen wir ein und als wir aufwachten, lag auf unseren Körben eine Gämse mit kugelrundem Bauch und schokoladenverschmierten Maul und schlief tief und fest. Es stellte sich heraus, dass Heinrich einen ganzen Topf bitterer Schokolade mitgenommen hatte, um mit dem einzigartigen Chili vom Claus ein mexikanisches Getränk zu kochen. Da die Gämse all unseren Proviant verschlungen hatte, liessen wir das Baumaterial auf der Hütte und wanderten zurück ins Tal.

Das Ungerechteste war, dass Jakob Dörig uns nicht bezahlte!

Liebe Grüsse Urs

 

Romanshorn, 30. Oktober 1846

Lieber Urs

Gestern kamen mit der neuen Fährverbindung zum ersten Mal Touristen aus Italien zu uns.
Dazu kommen auch immer mehr Gäste aus Österreich und dem Königreich Württemberg zu uns und geniessen unseren Apfelkuchen. Wir Mitarbeiter des Gasthauses zum Anker haben viel Zeit investiert, um einen Klassiktag zu organisieren. Mir persönlich gefällt die Musik von Robert Schumann zwar nicht so gut, aber wir mussten das schlechte Wetter am Bodensee durch eine Attraktion ersetzen.

Wenn du mich in Romanshorn besuchst, wirst du staunen, wie viele Gäste das Konzert von Robert Schuhmann angelockt hat. Mittlerweile hat sich das Wetter am Bodensee ziemlich verbessert, weswegen einige Leute jetzt noch baden gehen.

Vor ein paar Tagen bin ich mit der Postkutsche nach Sankt Gallen gefahren, um in einem alten Archiv nach neuen Rezepten zu suchen. Stell dir vor, ich habe ein Rezept für Feuerpunsch gefunden, welches wir sogleich versucht haben. Obwohl mein Vorgesetzter Angst hatte, dass wir das Restaurant abfackeln würden, habe ich es geschafft, ihn umzustimmen mit dem Spruch: «Probieren geht über studieren.»

Also stapelten wir Zuckerwürfel übereinander auf einem Sieb und übergossen sie mit Rum. Danach stellten wir uns im Kreis, bewaffnet mit Wassereimern, um den Topf mit den Zuckerwürfeln auf und ich zündete den Alkohol an. Eine Stichflamme loderte bis an die Decke, so dass sie schwarz wurde. Viele Gäste schrien laut auf und rannten aus dem Restaurant. In der Zwischenzeit hatte sich der Zucker komplett aufgelöst und kurz darauf stiessen wir mit unserem Chef auf unseren ersten Feuerpunsch an. Wenn du im Dezember zu uns kommst, werden wir den Feuerpunsch draussen machen müssen.

Liebe Grüsse Beat

 

 

Schwende, 11. November 1846

Lieber Beat

Letzte Woche ist ein neuer Mann ins Dorf gekommen, der ohne Punkt und Komma Deutsch mit französischem Akzent spricht. Er sucht nach einem Meister des Hackbrettbaus. Ich finde es toll, dass jemand die Einöde der Berge wieder ein bisschen aufmischt und hoffe, von ihm ein bisschen Französisch zu lernen. Jedes Mal, wenn ich auf den Säntis steige, blicke ich ins Tal hinab und sehe die Wolken über ihm liegen, während ich von der Sonne beschienen werde.

Ich freue mich auf den Feuerpunsch und einen Apfelwein mit Käse bei meinem baldigen Besuch in Romanshorn.
Übrigens hat Jakob Dörig verkündet, dass die Berghütte “Grand Hotel Thörig” heissen soll. Was für ein Name für eine Bretterbude, oder?

Liebe Grüsse Urs