Pfeifend geht Lorión die Strasse entlang zu seinem besten Freund Lars. Die Mittagssonne scheint ohne Gnade auf das kleine Dorf Diro in Barwarzj und verbreitet eine unerträgliche Hitze. Das ist auch der Grund, weshalb nur ein paar Strassenkatzen faul herumliegen oder lustlos eine Mäusefamilie jagen. Hier im armen Viertel des Dorfes liegt in der Mittagszeit immer alles verlassen da. Auch die Atmosphäre ist komplett anders als am Abend, wenn es etwas abkühlt und die Kinder sich zum Spielen draussen treffen, während die Eltern ihre Erlebnisse austauschen.

Kaum hat Lorión das Wohnviertel der Wohlhabenden erreicht, hört er auch schon die piepsenden Geräusche aus den Häusern der Reichen und dieses Scheppern von den neuen Autos, die gerade nach Hause fahren und deren Fahrer sich schon auf ein feines Mittagessen freuen. Lorión steuert direkt auf eines der edelsten Häuser zu, nachdem er sich schnell vor einer Gruppe von Schulkindern versteckt hat. Er fühlt sich immer so unbedeutsam und klein, wenn er in das Viertel der Reichen geht. Seine dreckigen, alten Kleider und seine schmutzigen Hände verunsichern ihn.

Lars und Lorión haben einen gemeinsamen Treffpunkt, an dem sie sich meistens treffen, wenn sie zusammen spielen wollen. Sie verstecken sich vor Lars‘ Eltern, da die nicht wollen, dass er mit einem armen Jungen wie Lorión befreundet ist.

Lars geht auf eine Privatschule, deswegen ist es eigentlich ein Wunder, dass die beiden beste Freunde sind. Lars bekommt auch Gitarrenunterricht, Singunterricht, Chorproben und gehört zu einer Fussballmannschaft.

Mal wieder schweifen Lorións Gedanken ab. Ach, wie gerne würde er Klavier- oder wenigstens Sing-Unterricht nehmen. Aber seine Eltern haben ja nicht einmal genug Geld für ein anständiges Haus. Sie wohnen ja nur in einer alten Holzhütte, die für zwei Eltern und sieben Kinder ziemlich eng ist.

Wie automatisch biegt Lorión in den Seitenweg ein, in dem sich ihr Geheimversteck befindet. Ihr Versteck ist eine grosse Rottanne, die einen guten Sichtschutz und bei schlechtem Wetter Schutz bietet.

Mit Kissen und Decken von Lars wurde es richtig gemütlich eingerichtet. Lorión kraxelt durchs Gebüsch und holt sich wie immer ein paar Kratzer. Schliesslich ist er bei der Tanne angelangt und kriecht unten durch. Überrascht pfeift er durch die Zähne, als er Lars zwischen drei grossen Taschen entdeckt. Erstens ist Lorión meistens zuerst da und zweitens hat Lars nie Gepäck bei sich, höchstens etwas zu Essen, aber doch nicht drei Taschen voll.

«Hi», sagt Lars in einem Tonfall, den Lorión noch nie bei ihm gehört hat. Trotzdem lächelt er, wenn auch etwas unsicher. «Hallo Lars», sagt Lorión und setzt sich neben Lars auf ein Kissen mit einem grimmig drein guckenden Tiger.

«Ich habe es einfach satt», platzt es aus Lars heraus. «Du weisst ja, wir haben schon oft darüber geredet, dass du so gerne Klavier- oder Singunterricht haben würdest. Das habe ich mit meinen Eltern ja auch schon besprochen und sie haben immer ‚Nein‘ gerufen und wurden richtig wütend und haben mir Anstandspredigen vorgetragen, dass ich nicht mit armen Kindern spielen darf und so weiter. Und als ich gestern das Thema beim Abendessen angesprochen habe, brüllten sie wie verrückt herum, dass, wenn ich dieses Thema nochmal anspreche, ich Hausarrest für fünf Wochen bekomme und ich nur noch mit Begleitung von einer erwachsenen Person raus darf. Das war mir zu viel und ich stürmte hoch in mein Zimmer ohne ein Wort zu sagen. Noch in der Nacht schmiedete ich Pläne, wie ich mich rächen könnte. Da kam mir halt die Idee abzuhauen und von unserer Köchin, die immer total lieb ist, mir Essen für eine Woche richten zu lassen. Sie weiss immer noch nicht wieso. Ich haute noch in derselben Nacht ab. Zuerst bummelte ich etwas sinnlos herum und brach schliesslich völlig erschöpft zusammen. Mitten in der Nacht schreckte ich auf und dachte zuerst, es sei einfach ein schlimmer Albtraum gewesen, aber dann sah ich die drei Taschen, die ich seit gestern mit mir rumschleppte und mir fiel schlagartig wieder alles ein. Plötzlich war ich wieder hellwach und lief einfach meinem Bauchgefühl nach und landete am Ende hier, in unserem Versteck. Ich legte mich unter eine der Decken und schlief auf der Stelle ein. Es war eine sehr unruhige Nacht und ich wachte ständig wieder auf. Als die Sonne aufging, wachte ich auf und zog mir die Fleece-Jacke an und frühstückte. Und jetzt…» Lars bricht ab und schaut zu Boden. «Ich weiss einfach nicht weiter. Das ist eine so sinnlose Idee. Aber ich kann jetzt auch nicht einfach wieder nach Hause gehen.»

Lorión schaut Lars betreten an und schweigt erst einmal. Drei bedrückende Minuten vergehen, die sich anfühlen wie zehn. «Ich bleibe bei dir. Wir können es uns ja richtig schön machen. Mit meinen Geschwistern habe ich schon oft gezeltet und das Essen reicht bestimmt auch für zwei. Wenn nicht, gehen wir in den Wald oder ich hole etwas von mir. Ist das nicht eine gute Idee?», schlägt Lorión vor. «Wü… würdest du das wirklich tun?», stottert Lars. «Klar! Dazu hat man doch Freunde und ausserdem wollte ich schon lange mit dir draussen übernachten», lacht Lorión. «Danke, danke, danke, danke! Du bist so ein toller Freund», quietscht Lars. «Natürlich der allerallerbeste Freund», fügt er hinzu und muss schon wieder lachen.

Die beiden erleben einen wundervollen Nachmittag. Sie spielen Verstecken, machen Quatsch, klettern auf Bäume und erzählen sich Geschichten. Gegen Abend sagt Lorión: «Ich glaube, ich sollte mal nach Hause gehen und fragen, ob ich mit dir für ein paar Tage draussen übernachten darf.» – «Ich komme natürlich mit, denn was ist das für ein Freund, der seinen Freund nicht begleitet? Und das Gepäck findet bestimmt niemand hier mitten in der Pampa», antwortet Lars. «O.K, dann lass uns jetzt grad los gehen», freut sich Lorión. Unterwegs spielen sie Dosenkicken mit einer alten Dose, die einfach am Wegrand liegt und machen Wettrennen. Als sie an Lorións Haus ankommen, ist Lars etwas beschämt, weil es so viele arme Familien gibt und Lars‘ Eltern sich sogar ein Zimmermädchen, Putzfrauen und eine Kochfrau leisten können. Noch nie haben sie an irgendeine Organisation für arme Menschen oder so gespendet. Chesal, Lorións kleinste Schwester, öffnet ihnen die Tür. Als sie Lorión sieht, kommt sie auf ihn zu und umarmt ihn stürmisch. Nun kommt auch noch Elina, Lorións grosse Schwester. Als sie Lars sieht, hält sie kurz verdutzt inne, dann geht sie aber auf die kleine Chesal zu und hebt sie auf den Arm. «Was wollt ihr? Mama ist gerade am Putzen. Und wieso ist Lars da? Muss er nicht um diese Zeit bei seinen Eltern sein? Übrigens, Papa hat sich schon gewundert, dass du so lange weg bist. Er wollte dir noch etwas zeigen, jetzt ist er aber gerade wieder auf dem Feld.» Elina schaut Lars mit einem forschenden Blick an.

«Und du, du Schlingel, du bist einfach abgehauen, obwohl du ganz genau weisst, dass du den Brei noch nicht gegessen hast. Wenn du ihn nicht isst, bekommst du auch keine Gutenachtgeschichte», sagt sie in einem zuckersüssen Ton zu Chesal, die versucht, sich aus Elinas Griff zu befreien. Aber Elina kitzelt Chesal durch, dass die Kleine einfach aufgeben muss. Das Quietschen, Kichern und Kreischen, das die beiden dabei verursachen, ist so unangenehm in den Ohren, dass die beiden Jungen schnell in das Innere des Hauses flüchten. Lars schaut sich mit grossen Augen um. Er ist zwar schon öfter bei Lorión zu Hause gewesen, aber es ist immer wieder erschreckend, wie gross der Unterschied zwischen Lars’ und Lorións Leben ist. In der Küche angelangt, wo die Mutter gerade das Waschbecken trockenwischt, ist es diesmal Lorión, der seine Mama stürmisch umarmt. «Das liegt wohl in der Familie, dass man sich so viel umarmt», überlegt Lars.

Lorión kommt gleich zur Sache: «Mama, darf ich mit Lars für ein paar Tage unter freiem Himmel übernachten? Wir passen auch gut auf uns auf und Essen können wir uns ja auch selber richten. Bitte!» – «Wenn Lars’ Eltern Bescheid wissen, dürft ihr von mir aus sehr gerne zusammen zelten gehen. Es sind ja in beiden Schulen gerade Ferien», sagt seine Mama lächelnd. Lars schaut unsicher zu Lorión. Lorión lügt seine Familie nie an. Tatsächlich holt Lorión Luft und fängt an zu reden.

Überrascht zieht Lars die Luft ein, denn was Lorión erzählt, ist ganz klar nicht die Wahrheit. «Also, Lars‘ Eltern wissen Bescheid und sind einverstanden. Wir würden gerne noch vor Sonnenuntergang bei unserem Schlafplatz sein. Können wir jetzt gehen?» Lorión lächelt seine Mama bittend an. «Na, von mir aus könnt ihr jetzt abzischen. Passt mir nur auf, dass ihr euch nicht erkältet», lacht sie.

Kurz darauf hat auch Lorión seine sieben Sachen gepackt und sie beeilen sich zu ihrem Versteck zu kommen. Dort angelangt essen sie ein feines Abendessen mit Oliven, Kichererbsensalat, Käse und Brot. Weil es schon dunkel ist, kuscheln sich die beiden unter die Decken und schalten Lars‘ Taschenlampe an. Sie erzählen sich gegenseitig Witze und Gruselgeschichten. Irgendwann fängt Lorión an zu erzählen, wie sie sich als Kleinkinder befreundet hatten.

Damals waren Lars‘ Eltern noch nicht so reich, wie sie es jetzt sind und beim Spielplatz um die Ecke gab es einen grossen Sandkasten, in dem beide gerne und oft spielten.

Eines Tages war Lorión mit seinem Vater am Sandkasten und Lars ebenso mit seinem Papa. Sie spielten beide friedlich mit sich selber. Irgendwann fragte Lorión Lars, ob sie zusammen eine Sandburg bauen wollen. Lars war total begeistert und sie verstanden sich super. Irgendwann sagte Lars zu Lorión, dass er in der Schillerstrasse 1a wohnt und Lorión verriet Lars seine Adresse.

Nach einiger Zeit langweilte sich Lars und er bewarf Lorión mit einer Hand voll Sand. Lorión fing natürlich an zu weinen und warf eine noch grössere Hand voll Sand direkt in Lars‘ Gesicht. Das verursachte, dass sie eine richtige Sandschlacht veranstalteten.

Lars‘ Vater war sehr ärgerlich auf Lorión und schimpfte mit Lorión sehr fest und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. Zu Lars sagte er, dass sie jetzt sofort wieder gehen.

Lorión war sehr traurig, dass sein neuer Spielplatzfreund einfach weggelaufen war und ging zu seinem Papa und erzählte ihm alles. Lorións Vater war das etwas unangenehm und sie marschierten schweigend nach Hause. Zuhause besprachen sie es mit Lorións Mama und sie fand, dass man sich entschuldigen sollte. Da Lorión die Adresse noch wusste, konnten sie sein Haus finden und sich entschuldigen. Davor packten die beiden eine Tafel Schokolade und eine Flasche selbst gepressten Orangensaft ein. Als sie beim Haus ankamen, atmeten sie noch einmal tief ein und aus, dann drückte der Vater auf die Klingel.

Die Köchin öffnete ihnen die Tür. Lorións Papa fragte nach Lars‘ Eltern. Als sie erfuhren, dass sie nicht da waren, erzählten Lorión und sein Papa, was passiert war und dass sie sich entschuldigen wollten. Plötzlich kam Lars heraus und Lorión und er spielten noch lange, während sich die Köchin und der Vater von Lorión unterhielten. Von da an waren die beiden allerbeste Freunde. Lars‘ Eltern gefiel das aber von Anfang an nicht. «Das waren Zeiten», lacht Lars, «aber jetzt bin ich wirklich müde und würde gern schlafen.» «Alles klar. Schlaf gut», schmunzelt Lorión. «Du auch. Gute Nacht», gähnt Lars. Dann fallen die beiden in einen tiefen Schlaf.

Im Haus von Lars herrscht seit Stunden grosse Unruhe. Seit dem Morgen wurde Lars nicht erblickt. Nicht einmal sein Kammermädchen weiss etwas davon. Am Morgen, als sie Lars wecken wollte, war er nicht in seinem Bett. Den ganzen Tag wurde nach Lars gesucht.

Lars‘ Eltern sind völlig verzweifelt und rufen die Polizei an. Doch die beiden Freunde sind unter ihrer Rottanne so gut versteckt, dass sie niemand finden kann.

«Guten Morgen, Schlafmütze», lacht Lars, als er sieht, wie sich Lorión aus seinem Deckenparadies wurstelt.

«Morgen», nuschelt Lorión. «Ich habe geträumt, dass die Polizei uns findet, während wir auf dem Spielplatz spielen und es gab richtig Ärger. Zum Glück war das nur ein Traum», murmelt er gedankenverträumt. «Du hast was?», fragt Lars alarmiert nach. «Ich habe geträumt, dass die Polizei uns erwischt hat, während wir auf dem Spielpatz gespielt haben und es gab richtig Ärger», wiederholt Lorión gespielt genervt, als hätte er es mit einem Schwerhörigen zu tun. «Oh …», sagt Lars nur. Er beginnt Haferbrei, zwei Teller, Löffel und Gläser auf einem kleinen Baumstamm zu positionieren. Er setzt sich hin, klopft auf den Platz neben ihm und macht eine dienerische Geste, während er sagt: «Haben sie die Ehre, sich neben mich zu setzen und ein grossartiges Frühstück zu verspeisen?» Lorión setzt sich lachend neben seinen Freund und sie vertilgen das Frühstück im Nu. Danach räumen sie alles auf und machen Ordnung.

«Wollen wir im Fluss baden gehen?», fragt Lars und beginnt schon in seiner Kleidertasche nach dem Badezeug zu wühlen. «Klar!», antwortet Lorión. Sie machen sich auf den Weg und in kürzester Zeit haben sie eine Stelle am Fluss gefunden, an der keine Menschenseele zu sehen ist. Die beiden verbringen einen lustigen, fröhlichen Vormittag und um die Mittagszeit packen sie ihr Mittagessen aus und geniessen es. «Irgendwie habe ich die ganze Zeit ein flaues und so komisches Gefühl im Magen», sagt Lars. …Aber wahrscheinlich hat das nichts zu bedeuten», fügt er schnell hinzu. «Ich glaube das ehrlich gesagt nicht. Mir geht es genauso. Vielleicht sollten wir doch mal zu deinen Eltern gehen», widerspricht ihm Lorión.

«Vielleicht…», sagt Lars nachdenklich.

Plötzlich hören die beiden zwei Männerstimmen hinter sich. Sie drehen sich ruckartig um und entdecken zwei Polizisten. Der eine geht auf sie zu und spricht sie an: «Kommt ihr mal bitte mit uns mit?» Lars schaut Lorión erschrocken an und die beiden stehen schweigend auf. Völlig überrumpelt folgen sie den beiden Herren, die auf Lars‘ Haus zusteuern.

Als sie dort ankommen, wird die Tür von innen aufgerissen und Lars‘ Mutter stürmt mit rot verweinten Augen auf Lars zu. Sie drückt ihn ganz fest an sich, als würde sie ihn nie wieder loslassen wollen. «Was hast du dir denn dabei gedacht mein Junge? Wieso bist du einfach fortgelaufen? Wir haben uns so grosse Sorgen gemacht!», ruft sie verzweifelt. Sie zieht ihn ins Haus und alle anderen folgen ihr. Da fängt Lars an zu schluchzen: «Ich war so traurig, dass ihr mir nicht erlaubt habt mit Lorión Zeit zu verbringen und dann auch noch gedroht habt. Das mit dem Gitarrenunterricht oder Singunterricht ist ja auch nicht so wichtig, aber eigentlich finde ich, wir sollten ihm das schenken. Wir haben so viel Geld und seine Familie fast gar keines. Es ist so unfair, warum können wir nicht gleich viel haben?» Lars entdeckt seinen Vater, der im Türrahmen steht. Mama und Papa schweigen lange. Schliesslich fängt Lars‘ Vater an zu reden:

«Weisst du Lars, die Welt ist nicht immer so einfach. Aber du hast recht. Eigentlich sollten die, die viel Geld haben, auch etwas Sinnvolles damit anfangen. Wir werden uns in Zukunft mehr darum bemühen. Und weisst du was? Deinem Freund schenken wir gerne den Gitarrenunterricht und auch sonst etwas Geld, aber nun lass uns jetzt zuerst einmal seine Familie besuchen.» Lars umarmt seinen Freund Lorión, dann seinen Papa und seine Mama und sie umarmen sich alle zusammen, ein richtiges Familien-Sandwich.

Das war der schönste Tag in Lars‘ Leben. Vielleicht werden sie ja auch eine Familie, die sich so viel umarmt, wie die von Lorión?