Der Winterthurer Hirnforscher Arko Ghosh untersuchte mit seinem seinem Team 2015 und 2017 in zwei Smartphone-Studien, wie das Super-Handy unser Hirn beeinflusst. Die Studienergebnisse sind am 7. März 2018 im Journal «Nature» erschienen. «Es geht nicht darum, ob unsere Kinder Smartphones benutzen, sondern wie», sagt Ghosh im Interview. Von Marion Eberhard
Herr Ghosh, Ihre Studie von 2015 hat gezeigt, dass sich das Gehirn durch die ständige Benutzung des Smartphones verändert. Wie muss man sich das vorstellen?
Jeder Finger hat ein entsprechendes Areal im Gehirn mit unendlich vielen Verbindungen. Diese werden durch unsere Aktivitäten geformt. Das Gehirn ist plastisch und entwickelt sich ständig. Kurz gesagt: Je mehr Wisch-Bewegungen der Daumen macht, desto mehr Signale sendet die Daumenspitze ins Gehirn, und die entsprechende Hirn-Region wächst. Zudem verändern sich die Verbindungen in diesem Hirnareal und die Art, wie sie sich miteinander austauschen.
Wofür ist diese Hirnregion zuständig?
Für die Bewegung. Aber das Hirn funktioniert komplex, Hirnareale haben nicht nur eine einzige Aufgabe. So ist dieser Bereich nicht nur hochaktiv, wenn man sich physisch bewegt, sondern auch, wenn man sich geistig mit Bewegung beschäftigt. Stellt man sich also etwas vor, plant etwas oder ist kreativ tätig – immer vorausgesetzt, es beinhaltet eine imaginative Bewegung – dann ist dieser Hirnbereich involviert. Und das ist oft der Fall: Sie haben zum Beispiel ein Objekt vor sich und möchten sich vorstellen, wie es von der anderen Seite her aussieht, drehen es also mental.
Wenn dieser Hirnbereich nun wächst, weil er durch die Smartphone-Nutzung trainiert wird, ist das ja positiv.
Nach unseren jüngsten Forschungsergebnissen glauben wir nicht mehr, dass es so einfach ist und nur darum geht, wie oft ein Hirnbereich benutzt wird. Unsere Studie von 2017 zeigt: Die Sache ist komplizierter. Es geht vielmehr darum, was genau wir in dieser Zeit am Smartphone tun. Ob wir es für Social Media nutzen, eine Mitteilung schreiben oder das Wetter checken, hat einen anderen Einfluss darauf, wie sich das Gehirn verändert.
Dann haben diejenigen Kinder, die ein Smartphone benutzen, hirntechnisch einen Vorteil?
Vorteil ist kein wissenschaftlicher Begriff. Wir gehen nicht in die Experimente mit der Frage, ob das gut oder schlecht für uns ist.
Das machen dann die Psychologen, wenn sie Ihre Resultate interpretieren?
Sie versuchen das, und wir versuchen, sie davon abzuhalten.
Warum?
Stellen Sie sich vor: Sie sind ein Arbeiter, dessen Aufgabe es ist, Zigarren zu rollen. Sie wären sehr froh, wenn sie ein Gehirn hätten, das imstande ist, die Zigarren sehr schnell zu rollen. Es wäre also gut, wenn Ihr Gehirn ans Zigarren-Rollen gewöhnt ist. Nun wieder zum Smartphone: Die Geräte werden für sehr viele verschiedene Dinge verwendet. Wir müssen uns fragen: Ist es nicht grundsätzlich gut, dass wir so viele verschiedene Handlungsmöglichkeiten in einem einzigen Gerät haben? Mit derselben Art von Bewegungen? Und natürlich ist ein Gehirn, welches an die Beschäftigung mit dem Smartphone gewöhnt ist, besser an unser modernes Umfeld angepasst. Das Gehirn, das nicht an den Umgang mit dem Smartphone gewöhnt ist, wird nicht fähig sein, es auf die gleiche Art und Weise zu bedienen und sich sozial zu beteiligen. Daher ist die Frage nach «gut» und «schlecht» hier sehr, sehr kompliziert.
Dann sollen wir unseren Kindern ein Smartphone geben und einfach darauf achten, dass sie das Richtige damit machen?
Nein! Das sollten wir auf keinen Fall tun. So einfach ist das nicht. Was klar ist: Der Umgang mit dem Smartphone verändert uns, er formt die Art und Weise, wie die simpelsten Strukturen in unseren Köpfen arbeiten. Wir müssen uns erlauben, zuerst genügend Information zu erhalten, um uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Und dazu sammeln wir mit unserem Team aktuell Informationen.
Sie sind selber Vater von zwei Kindern unter 6 Jahren. Was denken Sie über den Umgang von Kindern mit dem Smartphone?
Es geht mir gar nicht so sehr ums Smartphone an sich. Für mich stellt sich eine ganz andere Frage. Die Beschäftigung mit dem Smartphone bietet keine reichhaltige Erfahrung. Im normalen Alltag hingegen schon, da benutzen wir verschiedene Sinne und Bewegungsabläufe. Wenn ich beim Einkaufen nach einer Frucht suche, berühre ich sie, ich bewege sie, dann kaufe ich sie. Wenn ich jemanden treffe und ihm die Hand schüttle, berühre ich ihn, und dabei wird wieder ein anderer Sinn angesprochen. Während wir jetzt hier miteinander sprechen, bekomme ich ganz viel Information von Ihnen: Von Ihrem Gesicht, Ihren Augen, Ihrer Mimik. Als wir uns die Hände geschüttelt haben, konnten wir sehen, wie warm die Hand des anderen ist, wie stark der Händedruck und so weiter. Es sind immer verschiedene Sinne involviert.
Unsere sensorischen Erfahrungen ausserhalb der Smartphone-Welt sind also äusserst vielfältig. Je reichhaltiger unsere Erfahrungen, desto besser lernt das Hirn. Mit dem Smartphone hingegen – ob wir etwas kaufen, uns über Social Media, Whatsapp, SMS oder Mail mit jemandem austauschen oder das Wetter checken – alles, aber auch wirklich alles, geschieht mit der genau gleichen sensorischen Erfahrung: tippen oder wischen. Das finde ich für die Hirnentwicklung sehr herausfordernd. Unsere Erfahrungen und unser Erleben beim Smartphone-Gebrauch sind zwar schnell, aber sie sind sich alle so ähnlich. All die körperlichen Empfindungen, auf welchen unser tägliches Verhalten basiert, fallen weg. Das Gehirn wird dadurch limitiert. Und es ist schwierig, wenn es durch dieselbe Quelle so viele Informationen aufnehmen und mühsam die subtilen Unterschiede herausfinden muss.
Welchen Einfluss hat das auf unser Gehirn?
Eine riesige Anzahl der sensorischen Pfade, an die mein Gehirn gewöhnt ist und von welchen es profitiert, wird beim Gebrauch des Smartphones nicht benutzt. Dabei kann unser Hirn nur durch die Benutzung solcher Pfade neue Dinge lernen, sich weiter entwickeln und komplexe Muster entschlüsseln. Je mehr sensorische Komplexität das Hirn unserer Kinder erfährt, desto besser. Das wissen wir übrigens von den Sprachen: Je mehr verschiedene Sprachen und ihre unterschiedlichen Tonfrequenzen man kennt, desto besser lernt das Gehirn, die Frequenzen zu unterscheiden. Wenn man immer nur dieselbe Sprache hört, kann das Hirn gar nicht die Erfahrung machen, Tonfrequenzen zu trennen.
Gibt es dabei einen Unterschied zwischen dem Gehirn von Kindern und dem von Erwachsenen?
Dies ist eine der grossen Fragen, welche wir uns im Moment stellen. Wird das Gehirn von den gleichen Bewegungen am Smartphone unterschiedlich geformt, wenn es sich um ein sehr junges Kind oder eine ältere Person handelt? Unsere Voraussage ist, dass die Veränderungen substanziell unterschiedlich sind. Zum Beispiel dürfte die Art, wie wir Erwachsenen soziale Interaktion auf dem Smartphone einschätzen, ganz anders sein als bei den Kindern. Denn unser Gehirn erinnert sich dabei an all seine Erfahrungen von sozialer Interaktion und benutzt dafür die Pfade, welche aus der Vergangenheit für nicht digitale soziale Interaktion trainiert sind. Wie vorhin beim Beispiel mit der Handrotation: Wenn wir versuchen, ein Objekt gedanklich zu drehen, benutzt unser Gehirn die Bereiche, die auch beim wirklichen Drehen des Objektes eingesetzt würden.
In unserem aktuellen Projekt möchten wir nun herausfinden, wie anders das Gehirn von Kindern dabei funktioniert, die ja nicht auf so viele soziale Begegnungen in Realität zurückgreifen können wie ein Erwachsener, sondern auf viele virtuelle soziale Interaktionen. Welches sind die sozialen Schlüssel, die ihr Gehirn benutzt? Wie unterscheiden sie sich von denen der Erwachsenen in ihrer Fähigkeit, soziale Verhaltensweisen zu lesen?
Wie können Sie das alles ergründen?
Dadurch, dass uns das Smartphone die Möglichkeit gibt, so unfassbar viele Daten über das Verhalten unser Studienteilnehmer sammeln zu können. Das Smartphone liefert uns die History einer Person aus ihrem Alltag und nicht nur, wie früher, unter Laborbedingungen. So sind wir in unseren Studien nicht länger darauf angewiesen, dass die Eltern uns sagen, ob ihr Kind das Smartphone oft oder weniger oft benutzt. Das Gerät ist ein äusserst nützliches Tool für unsere Studien über das Gehirn. Viele denken, das Smartphone sei ein Problem. Aber es ist eben auch eine Lösung! Weil es uns in sehr detaillierter Weise sagt, was für unser Gehirn gut funktioniert und was nicht.
So kann man auch herausfinden, wie das Smartphone der Zukunft sein sollte?
Ja genau. Unsere Gesellschaft kann eine Idee entwickeln, in welche Richtung wir das Gehirn unserer Kinder und von uns Erwachsenen fördern wollen und was für unser Gehirn ungesund ist. Das Smartphone selber könnte viele Schlüssel dazu in sich tragen, in welche Richtung wir es eigentlich weiterentwickeln wollen. So lautet die Frage nicht länger, ob das Smartphone gut oder schlecht ist. Sondern: Ist das, was wir damit anstellen, gut oder schlecht für uns?
Die Ergebnisse der Smartphone-Studie 2017 wurden nach dem Interview bei «Nature» publiziert.
Der Hirnforscher Arko Ghosh ist Vater von zwei Kindern. Er lebt in Winterthur und den Niederlanden und zieht mit seiner Familie demnächst ganz in die Niederlande. Während seiner Arbeit am University College London sowie an der Universität Zürich und der ETH Zürich hat er diverse Untersuchungen und Studien publiziert. Seine Forschungsergebnisse wurden unter anderem bei Wired, BBC und IFLScience besprochen. Neu arbeitet er als Assistenzprofessor für Kognitive Psychologie an der Leiden Universität in den Niederlanden und führt ein Forschungsteam, welches die Verbindungen zwischen Smartphone und Gehirn genauer untersucht.
Eltern-Info – Links zum Thema Internet und Medienerziehung allgemein:
«Digitalisierung im Kinderzimmer», Luzerner Zeitung vom 15. Jan 2018
Vorlese-Bilderbuch zur Medienkompetenz «Peter und der Traum», Eveline Hipeli, Lehrmittelverlag Zürich
Digitales Material zur Medienerziehung für kleine Kinder
Beratung und Infos digitale Medien: Für Eltern von Kindern und Jugendlichen
Dieser Blog-Beitrag stammt von Marion Eberhard. Sie ist die Gründerin von Kinderthur.ch, Journalistin und Inhaberin des Textbüros Textundwort. Mit ihrer Familie lebt sie in Winterthur.